Der geheime Name: Roman (German Edition)
lange drängte er sie schon zurück. Bald würde er die Kontrolle darüber verlieren.
Mora erreichte den Bach. Er sprang ins Wasser und blieb regungslos stehen. Das Gefühl war so schön, dass er nachgeben wollte. Er wünschte sich, die Stelle zu berühren, die verbotene Qual herauszulassen.
Hastig sah er sich um. Der Herr war fortgegangen, er war allein an diesem Bach. Wenn er jetzt nachgäbe, hätte er für einige Tage Ruhe.
Doch was, wenn der Geheime unter seinem Tarnzauber verborgen war? Wenn er in seiner unsichtbaren Form den Bachlauf entlangwanderte? Vielleicht schlich er sich sogar absichtlich schon vor der Zeit an, um seinen Diener zu prüfen.
Es wäre zu gefährlich, es hier zu tun. Der Herr glaubte seit Jahren, Mora hätte seinen Trieb besiegt – wenn der Geheime ihn jetzt noch einmal ertappte, würde er die Strafe nicht überleben.
Mora kniete sich ins Wasser, ließ seinen Körper von der Strömung umspülen. Das Gefühl wurde so intensiv, dass er aufstöhnte. Doch gleich darauf tat die Kälte ihre Wirkung und ließ die Regung abflauen.
Mora schloss die Augen und wartete, bis er sicher war, die Gefahr gebannt zu haben. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf das zerzauste Menschengesicht, das ihm aus dem Wasser entgegenschaute. Fast erschrak er über sich selbst. Seine schwarzen Haare fielen lang und wild über seine Schultern, und sein Bart war so dicht und struppig, dass nur noch seine Augen und die Nase darüber hervorlugten.
Ein ausgewachsenes Menschenscheusal war aus ihm geworden. Morasal, so nannte der Herr ihn, seitdem Mora über seinen Kopf hinausgewachsen war. Morasal von Scheu sal. Auch Mora selbst musste sich so nennen, und wehe, ihm rutschte sein alter Kindername heraus. Dabei schämte er sich für seinen Erwachsenennamen, schämte sich für das struppige Menschenscheusal, zu dem er geworden war. Er verschloss die Augen vor seinem Antlitz. Menschen waren böswillige Kreaturen, die sich die ganze Welt unterworfen hatten. Eine Art, die sich von ihrer Gier und ihrer Zerstörungswut leiten ließ und nichts achtete außer sich selbst.
Mora hielt den Atem an und ließ sich nach vorne ins Wasser fallen. Ganz flach drückte er sich auf den Grund des Baches, legte sein Gesicht in den Sand und atmete langsam aus.
Er war ein Menschenscheusal, eine Kreatur, die gezähmt werden musste. Nur mit Mühe und harten Bestrafungen war es dem Geheimen gelungen, ihn im Zaum zu halten.
Mora sollte ihm dankbar dafür sein. Doch stattdessen wuchsen seine bösen Kräfte. Allzu oft wollte er gegen seinen Herrn aufbegehren, wollte seine Befehle verweigern und … Mora drückte sein Gesicht noch tiefer in den Schlamm, um den Gedanken zu unterdrücken, der sich doch nicht kontrollieren ließ: Er wünschte sich, den Geheimen zu verletzen, sich auf ihn zu stürzen und mit dem Jagdmesser auf ihn einzustechen, bis der Herr sich nicht mehr rührte.
Doch der Geschicklichkeit des Geheimen hatte er nichts entgegenzusetzen. Wann immer er ihm trotzte, zog der Herr seine Peitsche so schnell, dass Mora es erst bemerkte, wenn der Schmerz über seine Haut knallte. Es war ein Schmerz, der ihn augenblicklich wieder gefügig machte und ihn dazu brachte, sich nur umso tiefer zu ducken, wenn der Herr mit ihm sprach.
Die letzten Luftblasen blubberten aus Moras Mund. Er verspürte den Drang einzuatmen.
Was, wenn er hier einatmete, im Wasser? Er war ein Mensch, und Menschen konnten sterben.
Doch seine Nase sperrte sich dagegen, das Wasser einzusaugen. Mora fuhr auf und schnappte nach Luft, riss eine Wasserwelle mit sich, die tosend in den Bach klatschte. Schnell sprang er auf die Füße, beugte sich nach vorne und schüttelte das Wasser aus seinen Haaren.
Er sollte sich beeilen, endlich zurückzugehen. Aller Fleiß des heutigen Nachmittags wäre umsonst, wenn die wichtigste Vorbereitung noch nicht getroffen war, ehe der Herr zurückkehrte.
Mora hatte doch niemanden außer dem Geheimen. Niemanden sonst, der mit ihm redete. Ohne den Herrn wäre er allein – mit seiner Bosheit.
Aber wenn er für eine Weile alles richtig machte, dann würde der Herr ihn vielleicht sogar loben.
Mora nahm den Wasserkübel vom Ufer und watete weiter durch den Bach, bis dorthin, wo das abgemauerte Quellbecken das saubere Wasser auffing, ehe es über den Beckenrand sprudelte und sich mit dem braunen Torfwasser mischte, das der Bach aus dem Moor herüberschwemmte.
Mit schnellen Bewegungen füllte Mora den Kübel und trug ihn zurück durch
Weitere Kostenlose Bücher