Der geheime Name: Roman (German Edition)
dass meine Mutter mich ziehen lässt, wenn ich erwachsen bin. Aber daraus wird wohl nur etwas, wenn ich es selbst in die Hand nehme.
Jetzt gerade habe ich aus dem Fenster gesehen und meinen Plan geändert. Ich werde zu Dir kommen. Jetzt gleich. Nur etwas mehr als tausend Kilometer Landweg liegen zwischen uns. Bald sehen wir uns.
In Liebe,
Deine (Jose)Fina
Fina fühlte ihre Erleichterung, als sie das Tagebuch zuoberst in den Karton legte. Ihr Blick streifte die schweren Bücher. Sie hatte noch keinen genauen Fluchtplan – aber eines war klar: Wenn sie mit diesem Paket schnell und unauffällig von hier verschwinden wollte, müsste sie erst noch Superkräfte entwickeln. Hastig nahm sie die Bücher wieder heraus, bis auf das Buch, das ihr von allen am besten gefallen hatte. Schließlich schloss sie den Karton, klebte ihn zu und schrieb die Adresse ihrer Großmutter darauf.
Allemagne – in deutlichen, fetten Buchstaben malte sie das letzte Wort.
Deutschland. Das Land ihrer Muttersprache, Heimat ihrer Vorfahren. Es musste so ungefähr das einzige Land auf der Welt sein, in dem sie noch nicht gelebt hatte. Nur zweimal war sie dort gewesen: zuerst für einen Besuch bei ihren Großeltern, als sie noch ganz klein gewesen war – und zuletzt für ihre Abiturprüfung.
In Deutschland würde es zu viel regnen, die Menschen seien mürrisch und das Essen zu fettig, hatte ihre Mutter immer geklagt. Es gebe viel zu viele Städte, und die wenigen Flecken, an denen die Natur noch schön sei, wären so klein, dass man selbst mittendrin noch den Verkehrslärm einer nahen Landstraße hören könne. Außerdem sei Deutschland das langweiligste Land der Welt.
Kaum ein gutes Haar hatte ihre Mutter an ihrem Heimatland gelassen, fast so, als wollte sie dafür sorgen, dass Fina niemals auf die Idee käme, Deutschland zu betreten.
Doch je älter sie wurde, desto größer wurde ihr Interesse an der Höhle des Löwen.
Fina hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie aufstand. Wie sollte sie es schaffen, vor ihrer Mutter zu fliehen? Zumal es eine doppelte Flucht war, schließlich konnte es tatsächlich sein, dass ihr Vater nach ihr suchte. Wenn er gestern noch im Dorf gewesen war, dann hatte er sie vielleicht längst gefunden und wartete nur darauf, dass sie ihm in die Arme lief.
Doch selbst wenn sie ihr Leben lang vor ihm geflohen waren – womöglich suchte er nur nach ihr, um sie endlich vor ihrer wahnsinnigen Mutter zu retten. Vielleicht wäre es sehr aufschlussreich, sich einmal mit ihm zu unterhalten.
Fina schüttelte den Kopf, um die Gedankenfliege zu verscheuchen. Sie wollte endlich ihr eigenes Leben beginnen. Ganz gleich, was es mit ihrem Vater auf sich hatte – es war sicherer, ihm nicht über den Weg zu laufen.
Fina schlich zur Wand und horchte. Ihre Mutter schien nebenan in ihrem Zimmer zu sein und ebenfalls zu packen. Vorsichtig öffnete Fina die Tür und schaute in den Flur. Die Zimmertür ihrer Mutter war geschlossen.
Jetzt oder nie!
Fina setzte ihren Rucksack auf und nahm das Paket. Ihr Blick fiel auf ein Kuvert, das noch auf ihrem Schreibtisch lag: der Entschuldigungsbrief an Celine. Sie griff danach, trug alles nach unten und brachte es in der Nische neben der Tür in Position. Dann schlich sie in das Büro ihrer Mutter und fand die beiden Pässe tatsächlich ganz oben auf dem Schreibtisch. Direkt daneben lagen die beiden Kreditkarten ihrer Mutter. Fina zögerte einen Moment. Dann nahm sie beide Karten und beide Pässe und steckte sie in ihre Tasche.
Schließlich lief sie noch einmal ins Obergeschoss und schob den Kopf in das Zimmer ihrer Mutter. Sie versuchte, entschuldigend zu lächeln. »Ich hab fertig gepackt. Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich noch kurz zu dem Pferd und verabschiede mich.«
Ihre Mutter lächelte ihr traurig zu. »Aber mach nicht zu lange. In einer Dreiviertelstunde fahren wir los. Und bring deinen Rucksack schon mal ins Auto.«
Fina nickte. »Mach ich.« Ihre Stimme drohte zu brechen. Schnell schloss sie die Tür und schluckte den Kloß herunter.
Sie konnte ihrer Mutter nicht einmal tschüss sagen. Darüber hatte sie nicht nachgedacht. Sie konnte ihr auch keinen Zettel hinterlegen, weil sie ihn womöglich zu früh finden würde. Und an die Neuseeländer Adresse brauchte sie erst recht nicht zu schreiben, weil ihre Mutter ohne sie sicherlich gar nicht erst dorthin fliegen würde. Noch dazu ohne ihren Pass.
Am besten, sie schrieb einfach später eine E-Mail und teilte ihr mit, dass
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