Der geheime Name: Roman (German Edition)
sie den Flug schon gebucht, direkt, nachdem sie sich an diesem Morgen die erste Zigarette angezündet hatte.
Ihre Mutter rauchte nur, wenn sie flohen. Sobald sie am neuen Ort ankamen, bereute sie es und gewöhnte es sich wieder ab.
Fina fühlte, wie das Zittern ihrer Mutter auf sie übergriff. Ihre Zähne schlugen leise klappernd aufeinander. »Was ist los?«
Susanne wirbelte herum. »Fina!« Tränen glitzerten auf ihren Wangen. »Er hat uns gefunden. Wir müssen weg von hier!«
Fina erstarrte. Wer hatte sie gefunden? Ihr Vater etwa, der Liebhaber ihrer Mutter?
Plötzlich ahnte Fina, welches Spiel hier gespielt wurde: »Er hat uns gefunden? Hör auf, mich anzulügen! Du hast dich gestern mit ihm getroffen! Ich habe euch gesehen. Wie ihr euch abgeleckt habt, mitten auf dem Marktplatz. So was Widerliches!«
Wie konnte ihre Mutter sie auf diese Weise betrügen? Ihn erst hierherlocken und dann vor ihm weglaufen. »War es jedes Mal so? Hast du dich erst mit ihm getroffen und bist dann geflohen?« Fina starrte ihre Mutter an. »Das ist doch echt krank, Mama! Bist du abhängig von ihm? Ist er so geil im Bett, dass du nicht anders kannst, als ihn alle paar Monate anzurufen – damit er auf einen kleinen Besuch vorbeikommt?« Der Boden unter Finas Füßen schwankte. Sie musste einen Schritt zur Seite machen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Na klar! Deshalb wusstest du also immer, dass er uns gefunden hat! Weil du es ihm gesagt hast.«
Ihre Mutter war bleich geworden. Ihre Hände klammerten sich an die Anrichte. »Fina … das ist … ich …« Sie schüttelte den Kopf, blickte für einen Moment so hilflos drein, dass es Fina fast leidtat. Schließlich atmete Susanne tief ein und wischte die Tränen aus ihren Augen. »Das ist so viel komplizierter, als du dir vorstellen kannst. Ich kann das jetzt nicht erklären.« Sie wandte sich von Fina ab, ihre Hände wanderten ziellos über die Knöpfe und Hebel der Espressomaschine. »Wir haben nicht mehr lange, bis unser Flieger geht. In zwei Stunden müssen wir gepackt haben. Bitte beeil dich!«
Fina konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Ihre Mutter musste krank sein. Anders war es nicht zu erklären. Sie erinnerte sich an das Telefongespräch. Ihre Eltern hatten über sie geredet, über ihr Abitur, über ihre Zukunft – ganz so, als wären sie völlig normale Eltern. »Du warst doch glücklich mit ihm. Das hab ich gesehen. Dass ihr euch liebt, dass ihr zusammen sein wollt – warum darf ich ihn nicht treffen? Was ist so gefährlich an ihm? Ich verstehe das nicht?«
Ihre Mutter hielt inne. Ihr Rücken bebte, aber sie drehte sich nicht um. »Ja, Fina. Wir sind glücklich zusammen. Und trotzdem … Wir haben jetzt keine Zeit. Wir müssen packen. Lass uns das nach dem Umzug besprechen.«
Ihre Mutter war krank. Auf einmal war Fina sich sicher. Ihre Angst, ihre Flucht – alles nur eine Folge von dem Wahn einer Geisteskranken.
Finas Hals fühlte sich eng an. Wenn sie blieb, würde sie entweder heulen oder schreien. Stattdessen drehte sie sich um und rannte nach oben in ihr Zimmer.
* * *
Fina warf einen Blick durch ihr kleines Reich, das bald nur noch in ihrer Erinnerung existieren würde. Sie besaß nicht viel, was sie einpacken konnte, hatte nicht viel, das ihr gehörte. Etwa zwanzig Bücher, die sie im letzten halben Jahr gelesen hatte, standen auf dem Regalbrett, daneben ein paar neue CDs, die längst auf ihrem MP3-Player gespeichert waren. Abgesehen davon gab es nur noch ihre letzten Schulsachen in der Schreibtischschublade, ihre Klamotten und wenige andere Dinge, die sie hier gekauft oder bekommen hatte.
Es war nicht viel – dennoch musste sie sich sogar davon trennen. Sie konnte nur so viel mitnehmen, wie in ihren Trekkingrucksack passte. Nur so viel, wie sie vom Flughafen ins Taxi tragen konnte, nur einen Rucksack voll, damit sie notfalls einen Sprint einlegen konnte, falls ihr Vater sie am Flughafen abfangen wollte.
Finas Blick blieb an dem hübschen Boutis hängen, der geblümten, aufwendig gearbeiteten Tagesdecke, die ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Ordentlich zusammengefaltet hing sie über dem Rand ihres Bettes und wartete auf ihren Einsatz. Daneben auf der Fensterbank entdeckte sie das Schälchen mit dem bunten, duftenden Potpourri, das sie sich vor kaum einem Monat auf dem Markt gekauft hatte. Fina hatte sich oft vorgestellt, wie sie ihr Zimmer einrichten würde, wenn es ihr Zuhause wäre. Sie hätte gerne eine
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