Der Geheime Orden
aber lassen Sie mich kurz eine Suche starten.« In den nächsten fünfzehn Minuten gab sie verschiedene Kombinationen der Wörter in die Suchmaschine ein. Nachdem nichts geholfen hatte, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Religion ist alles andere als mein Spezialgebiet. Sie brauchen jemanden, der sich mit geistlicher Literatur auskennt. Haben Sie es an der theologischen Fakultät versucht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wen könnten Sie dort empfehlen?«
»Fangen Sie einfach mit einem der Referenzbibliothekare in der theologischen Bibliothek an. Wenn die Ihnen nicht helfen können, wissen sie bestimmt jemanden.«
Ich dankte ihr, verließ die Bibliothek und ging über den Yard zum Lowell House zurück. Da hörte ich die düsteren Glocken der Memorial Church hoch oben im Glockenturm läuten. Sie veränderten nicht nur den Weg, den ich kurz zuvor eingeschlagen hatte, sondern die ganze Richtung unserer Nachforschungen, ohne dass ich es damals geahnt hätte.
Reverend Leonard S. Campbell war der berühmte Pastor der Memorial Church und Inhaber des Plummer-Lehrstuhls für Moraltheologie an der theologischen Fakultät. Gleichzeitig war er der auffälligste Afroamerika ner in Harvard, ein vielzitierter Bibelexperte und ein gefragter Redner auch zu Themen außerhalb von Glaubensfragen. Campbell war klein und schmächtig, aber ein intellektueller und akademischer Riese.
Wenn der Normalbürger sich einen Harvardprofessor vorstellt, passte niemand besser in dieses Bild als Campbell. In Boston geboren und aufgewachsen, sprach er mit einem Neuengland-Akzent, dessen harte Kanten durch seine spielerische Beredsamkeit und ein Vokabular, das selbst Lexikographen in Erstaunen versetzte, kunstvoll abgeschliffen wurden. Von allen Pastoren der Memorial Church hatte Campbell die längste Dienstzeit – eine Leistung, die umso beachtlicher war, als er der einzige Afroamerikaner war, der diesen kritischen Posten an jenem Ort, der als Ankerfels der geistigen Grundwerte Harvards galt, je innegehabt hatte.
In meinem ersten Studienjahr hatte ich einige seiner überkonfessionellen Gottesdienste besucht, und es war unmittelbar einleuchtend, warum Campbell in den letzten zwanzig Jahren Harvards angesehenstes Gotteshaus verwalten durfte. Von oben herab, aus der üppig mit Schnitzereien verzierten Kanzel, erfüllte seine kraftvolle Stimme die geräumige Kirche, und er unterhielt die Gemeinde mit phantastischen biblischen Geschichten, wobei er kaum einmal in sein Manuskript schaute, sondern durch seine Brille die Menge nach dem Zweifler in ihrer Mitte durchforschte. Er war ausgebildeter Baptistenprediger, eine wichtige pädagogische Prägung, der er seine überwältigenden rednerischen Fähigkeiten verdankte. Doch Campbell war überdies ein entschlossener und vollendeter Intellektueller, dessen Gelehrsamkeit mehrere Bücher, unzählige Essays und eine der eindrucksvollsten akademischen Karrieren aller Harvard-Professoren entsprungen waren.
Ich stieg die Stufen zur Kirche hinauf, trat ein und machte einen Bogen um eine Touristengruppe und ihre blitzenden Kameras, die das dunkle Mittelschiff mit einer Lichtershow erfüllten. Ich begab mich zu Reverend Campbells Büro. Seine Sekretärin ließ mich wissen, dass er sich zu einem späten Mittagessen nach Hause begeben hatte. Wenn ich mich beeilte, könne ich ihn noch erwischen, bevor er zu einer Kuratoriumssitzung im Wellesley College aufbreche.
Mit dem Fahrrad war es nur ein kurzer Weg bis zum Sparks House, einer gelben, neo-georgianischen Backsteinvilla, die passenderweise zwischen dem Science Center und der William James Hall gelegen war. Campbell lebte dort in der Regel allein, abgesehen von dem wenigen Personal, das ihm zur Seite stand, wenn er seine obligatorischen Gastgeberpflichten bei wichtigen Ereignissen wie dem jährlichen Fest der Studentenvereinigung Phi Beta Kappa oder einem Abendessen zur feierlichen Promotion mit Ehrengästen und fast vergessenen Emeriti zu erfüllen hatte. Campbell hatte sein Schicksal in den Annalen der studentischen Überlieferung mit seinen weithin beliebten Mittwochstees besiegelt, die im Laufe eines Jahres von mehreren Tausend Studenten besucht wurden. Da ich kein Freund von Tee und hochgestochenen Konversationen war – denn ich ging davon aus, dass solche in diesen dunklen Räumen geführt wurden –, war ich nie dabei gewesen. Aber ich hatte nichts als Lob von jenen gehört, die teilgenommen hatten und Campbeils eklektische Sammlung seltener Bücher und
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