Der Geheime Orden
ging es für die nächsten zehn Minuten. Bei jedem falschen Alarm kehrten wir an unsere Positionen zurück und nahmen unsere Suche wieder auf. Nach zwanzig Minuten kam mir der Verdacht, dass das Grundstück noch größer war, als wir angenommen hatten, aber dann fiel mir vorne links etwas ins Auge. Es war ein riesiger Baum, etwa viermal so groß wie die anderen, der einsam auf einer kleinen Lichtung stand. Er musste noch etwa dreißig Meter entfernt sein. Je näher ich ihm kam, desto gewaltiger sah er aus. Doch ich konnte den tief hängenden Ast nicht sehen, von dem Daltons Tante gesprochen hatte. Hatte ihn vielleicht jemand abgesägt, oder war er abgebrochen?
Als ich den Baum schließlich erreichte, ging ich um ihn herum – und da sah ich es. Der Ast war so dick wie der Stamm einiger der anderen Bäume und besaß die Form eines flachen U, in dem bequem mehrere Leute gleichzeitig sitzen konnten. Es war der merkwürdigste Baum, den ich je gesehen hatte, und ich fragte mich, ob es tatsächlich möglich war, dass die Abbotts hier ihren einzigen Sohn gezeugt hatten. Ich rief Dalton, und er kam herbeigelaufen.
»Heiliger Strohsack!«, stieß er hervor und steckte seine Schaufel neben mir in den Boden. »Das ist der seltsamste Baum, den ich je gesehen habe. Wie kann etwas so komisch wachsen?«
Wir gingen beide zu dem Ast hinüber und verharrten staunend. Er sah wie ein menschlicher Arm aus, der gerade etwas vom Boden aufgehoben hatte und in der Bewegung erstarrt war.
»So, und jetzt müssen wir die Gräber finden«, sagte Dalton. »Tante Contessa sagte, dass Mrs. Abbott rechts neben Mr. Abbott unter dem Baum beerdigt wurde. Die Anordnung hat irgendetwas mit der Heiligen Schrift zu tun. Erasmus wurde zur Linken seines Vaters beerdigt.«
»Lass uns in Kreisen um den Baum gehen«, sagte ich. »Wir fangen nahe am Stamm an und gehen in entgegengesetzter Richtung, bis wir uns wieder treffen. Wenn wir nichts gefunden haben, wiederholen wir das Ganze in einem größeren Abstand vom Stamm.«
Genau so machten wir es. Direkt am Baum begannen mit unserem ersten Rundgang, fanden aber nichts. Wir wiederholten es zehn Mal, entdeckten aber keine Spur von irgendwelchen Grabsteinen. Als wir uns sieben Meter von Stamm entfernt hatten, blieb Dalton stehen und sagte: »Sie müssen hier sein. Irgendetwas machen wir falsch.«
»Vielleicht stehen die Grabsteine nicht aufrecht, sondern liegen flach im Boden«, meinte ich.
»Möglich«, sagte Dalton, »aber Abbott hat so viel Zeit und Geld darauf verwendet, diesem Anwesen Bedeutung zu verleihen. Man würde doch erwarten, dass er aus seiner Grabstätte eine richtig große Show gemacht hätte. Es kommt mir ziemlich seltsam vor, dass er sich und die seinen mitten in einem Wald beerdigen lässt und kaum einen Hinweis darauf hinterlässt.«
»Da bin ich anderer Meinung«, sagte ich. »Vielleicht wussten sie ja, dass dieser Besitz eines Tages in die Hände von Fremden fallen würde. Wenn sie sich ein großes Mausoleum errichtet hätten, wäre es viel wahrscheinlicher gewesen, dass spätere Besitzer irgendwann genug von einem großen Denkmal bekommen hätten, das sie täglich vor Augen haben. Stattdessen entschieden sie sich dafür, ihre Grabstätte diskret mit kleinen Platten zu kennzeichnen, die nicht jedermanns Aufmerksamkeit erregen, sodass sie für immer dort ruhen können.«
Wir kehrten zum Baumstamm zurück und begannen erneut unsere Kreise zu ziehen. Dieses Mal benutzten wir allerdings unsere Schaufeln und Füße, um das Laub und die Zweige zur Seite zu fegen. Wir kamen quälend langsam voran, bis Dalton etwas fand.
»Jackpot!«, rief er.
Ich rannte auf die andere Seite des Baumes. Drei Meter vom Stamm entfernt kauerte Dalton auf Händen und Füßen, zog und zerrte an Unkräutern und widerspenstigem Gestrüpp. Ich kniete mich neben ihn und tat es ihm gleich, bis wir einen ungehinderten Blick auf den Mar morgrabstein von Elizabeth Abbott hatten. Der Stein war bemerkenswert schlicht für eine so vornehme Dame.
Elizabeth Charlesworth Abbott
Gemahlin des Collander Wendeil Abbott
Frau von Welt
1888-1978
Dalton betrachtete versunken den Grabstein und sagte: »Es ist schon seltsam. Wer hätte sich vorstellen können, dass das Andenken einer Frau, die im Leben so viele Vorrechte genoss und großen Einfluss besaß, einmal aus einem kleinen Stein und elf einfachen Worten besteht?«
Das erinnerte mich an die Worte meines Pastors, bevor er die Sonntagskollekte einsammelte: »Nackt
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