Der Geheime Orden
eines der ersten Mitglieder. Ich habe seinen Namen in einem der alten Mitgliederverzeichnisse gefunden. Er war der Schriftführer von 1885 und 1886.«
Astor trug einen grauen Wollmantel mit schwarzem Pelzkragen, stand am Bug eines Schiffes und schaute nachdenklich ins aufgewühlte Wasser. Er hatte eine lange Nase und einen dichten schwarzen Schnurrbart, der sich an den Enden leicht kräuselte und seine Oberlippe überdeckte. Lange, gepflegte Koteletten liefen vor den Ohren hinab. Alles in allem konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er ein äußerst wohlhabender Mann war.
Ich trat näher, um das Gemälde eingehender zu betrachten, und war schockiert, als ich die drei Buchstaben entdeckte, die uns schon seit Wochen verfolgten. Sie standen an der Steuerbordseite des Schiffes und waren kaum zu lesen. RMS. Wenn ein größeres Stück des Schiffes auf dem Gemälde abgebildet gewesen wäre, hätte man auch den Namen lesen können, der auf diese Buchstaben folgte – ein Name, mit dessen Hilfe wir das Rätsel schon vor langer Zeit hätten lösen können. Titanic. In der sechsten Klasse hatte ich mal einen Aufsatz über die RMS Titanic geschrieben. Nur wenige Menschen wissen, dass RMS für Rojal Mail Steamer stand. Die Titanic war nicht nur als größtes von Menschen geschaffenes bewegliches Objekt gebaut worden, sondern auch – neben ihrer Funktion als Passagierdampfer-, um Post über den Atlantik zu befördern.
Dalton stand zu weit entfernt, um die kleinen Buchstaben am unteren Rand des Gemäldes sehen zu können.
»Tolle Sache«, sagte er. »Ein reicher Mann steht an der Reling, als gehörte ihm die ganze Welt. Worauf willst du hinaus?«
»Es war die ganze Zeit hier, und ich hab’s einfach nicht gesehen«, sagte ich; »Ein Sprössling von Waldorf vom Rhein nicht sehr weit.«
Ich ging zum Bücherregal neben der Tür und zog die Encyclopedia of New York vom obersten Regalbrett, dazu noch den ersten Band der Encyclopedia Britannica.
»Wirst du mir irgendwann dein großes Geheimnis verraten?«, fragte Dal ton.
»Als ich zum Abendessen in New York war, kamen wir an diesem schicken Hotel vorbei«, sagte ich und blätterte durch die Seiten der Encyclopedia of New York. »Jede Menge Leute in Smokings und Abendkleidern standen davor und stiegen in ihre Limousinen. Claybrooke sagte, dass es das Waldorf-Astoria sei. Das ›Waldorf‹ ließ mich stutzen, aber dem ›Astoria‹ schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Ich wollte es zu Hause nachschlagen, hab’s aber vergessen.«
Ich fand den Eintrag zum Waldorf=Astoria. Die Antwort stand direkt in den ersten zwei Absätzen. Ich las sie laut vor:
»Am 24. März 1893 eröffnete der Millionär William Waldorf Astor das dreizehnstöckige Waldorf-Hotel auf dem Grundstück an der Fifth Avenue und 33. Straße, wo zuvor seine Villa gestanden hatte. Erbaut von dem bekannten Architekten Henry Hardenbergh sollte das Waldorf Astors Vision eines Luxushotels verkörpern, komplett mit elektrischem Strom in allen Räumen und eigenen Bädern für die meisten Gästezimmer – zwei von vielen Annehmlichkeiten, die das Waldorf als erstes Hotel einführte. Vier Jahre später bekam das Waldorf Gesellschaft vom siebzehnstöckigen Astoria Hotel, das auf einem benachbarten Grundstück von Waldorfs Cousin John Jacob Astor IV. errichtet worden war. Man baute einen Korridor, der beide Gebäude miteinander verband und zum dauerhaften Symbol der kombinierten Waldorf und Astoria Hotels wurde, repräsentiert durch das Gleichheitszeichen im Waldorf-Astoria.
1929, nachdem schon seit Jahrzehnten erlesene Gäste aus aller Welt dort genächtigt hatten, wurde beschlossen, das ursprüngliche Waldorf-Astoria abzureißen, um an derselben Stelle das Empire State Building und fünfzehn Straßen weiter nördlich ein neues Hotel an der Park Avenue zu erbauen. Das derzeitige Waldorf-Astoria wurde am 1. Oktober 1931 eröffnet und war damals das höchste und größte Hotel der Welt, geradezu eine Stadt in der Stadt. Präsident Herbert Hoover persönlich hielt die Radio-Grußadresse zur Eröffnung.«
»Einfach genial, Spence«, sagte Dalton, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. »Auch die zweite Zeile passt per fekt auf Astor: Ein Bruder im Gas in Untadeligkeit.«
Und dann zeigte ich ihm das RMS an der Steuerbordseite des Schiffes. Er starrte darauf, ohne ein Wort zu sagen.
Ich hatte die andere Enzyklopädie geöffnet, da ich mir sicher war, dass die dritte Zeile des Gedichts dort ihre Erklärung finden würde.
John
Weitere Kostenlose Bücher