Der geheime Stern
ihren Körper so gut wie meinen eigenen. Sie hat ein sichelförmiges Muttermal am Rücken, etwas links der Wirbelsäule. Und auf der linken Fußsohle eine kleine Narbe. Sie ist mit zwölf in den Hamptons in eine zerbrochene Muschel getreten.”
Seth hob den Fuß der Toten, fand die Narbe, nickte der gerichtsmedizinischen Assistentin zu. “Ich … ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.”
“Ja, das möchten Sie wohl.” Ihre Muskeln fühlten sich an wie aus Glas. “Entschuldigen Sie mich.”
Sie schaffte es fast bis zur Tür, bevor sie schwankte. Leise fluchend lief Seth hinter ihr her und fing sie auf, schob sie auf den Korridor und setzte sie auf einen Stuhl.
“Ich werde nicht ohnmächtig.” Sie kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die Übelkeit an.
“Fällt mir schwer, das zu glauben.”
“Ist aber so.” Vorsichtshalber ließ sie den Kopf zwischen die Knie sinken. “Mein Gott, sie ist tot. Und das bloß, weil sie mich gehasst hat.”
“Wie bitte?”
“Spielt keine Rolle. Sie ist tot.” Grace richtete sich wieder auf und lehnte den Kopf an die kühle weiße Wand. Ihr Gesicht war mindestens ebenso weiß. “Ich muss meine Tante anrufen, Helen Fontaine. Melissas Mutter. Ich muss ihr sagen, was geschehen ist.”
Seth musterte diese Frau, studierte ihr Gesicht, das trotz der Blässe nichts von seiner erschütternden Schönheit eingebüßt hatte. “Ich kümmere mich darum.”
“Nein, ich muss sie selbst anrufen.”
Erst als sie ihre Hand bewegte, wurde ihm bewusst, dass er seine daraufgelegt hatte. Hastig zog er sie zurück und stand auf. “Ich konnte Helen Fontaine und ihren Mann bislang nicht erreichen. Sie sind in Europa.”
“Ich weiß, wo sie sind.” Grace schob sich das Haar aus dem Gesicht, machte aber noch keine Anstalten, aufzustehen. “Ich kann sie ausfindig machen.” Bei dem Gedanken an den bevorstehenden Anruf schnürte sich ihr die Kehle zu. “Könnte ich einen Schluck Wasser bekommen, Lieutenant?”
Seine Absätze klackten auf dem Fliesenboden, als er davonging. Dann war Stille – vollkommene, entsetzliche Stille. Der Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft. Grace war furchtbar erleichtert, als Seth endlich zurückkam. Mit beiden Händen nahm sie den Pappbecher entgegen und trank in langsamen Schlucken.
“Warum hat sie Sie gehasst?”
“Wie bitte?”
“Ihre Cousine. Sie sagten, sie hätte Sie gehasst. Warum?”
Sie reichte ihm den leeren Becher zurück. “Ich würde jetzt gerne gehen.”
Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte wieder etwas Farbe bekommen, aber ihre Pupillen waren geweitet, die knallblaue Iris wirkte glasig. Er bezweifelte, dass sie noch eine weitere Stunde durchhalten würde.
“Ich bringe Sie zurück zu Cade Parris”, entschied er. “Sie können Ihre Sachen auch morgen früh holen und dann in mein Büro kommen, um Ihre Aussage zu machen.”
“Ich sagte, dass ich das heute noch erledigen will.”
“Und ich sage, dass es bis morgen warten kann. Momentan nutzen Sie mir sowieso nicht.”
Sie lachte schwach. “Ich glaube, Sie sind der erste Mann, der das zu mir sagt. Ich bin am Boden zerstört, Lieutenant.”
“Verschwenden Sie Ihren Charme nicht an mich.” Er nahm sie am Arm, half ihr auf und dirigierte sie zum Ausgang. “Sie sollten sparsamer mit Ihren Kräften umgehen.”
Ärgerlich machte sie sich los und trat in die Nachtluft hinaus. “Ich mag Sie nicht.”
“Das müssen Sie auch nicht.” Er öffnete ihr die Wagentür. “Genauso wenig wie ich Sie mögen muss.”
Sie blickte ihn an. “Der Unterschied ist nur, dass ich Sie, wenn ich die Kraft hätte – oder auch nur die Absicht –, dazu bringen könnte, zu betteln .” Mit diesen Worten stieg sie ein.
Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Seth, als er die Tür zuknallte.
Aber sicher war er sich nicht.
3. KAPITEL
S ie kam sich zwar wie ein Feigling vor, aber sie war an diesem Abend tatsächlich nicht mehr nach Hause gefahren. Sie hatte nicht allein sein wollen in ihrem durchwühlten Haus mit dem Kreideumriss auf dem Boden. Jack war so nett gewesen, die Koffer aus ihrem Auto zu holen und zu Cade Parris zu bringen.
Jetzt war Grace auf dem Weg zu Seth Buchanan, um endlich ihre Aussage zu machen. Sie hatte sich sorgfältig zurechtgemacht und trug das Sommerkostüm, das sie während ihres Kurztrips gekauft hatte. Der butterblumengelbe kurze Rock und die taillierte Jacke wirkten zwar nicht gerade geschäftsmäßig, aber das war auch nicht ihre Absicht. Sie
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