Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
nichts.
»Sheila.«
»Ja?«
»Sheila.«
»Ja, Dick Evans.«
»Schon gut. Ich ging auf den kleinen Vorplatz, der Zug fuhr ab, und ich sah, wie Sie in den Wagen stiegen. Dann knipste einer von ihnen eine Taschenlampe an – das war ihr Fehler –, und ich sah, wie sie Ihnen einen Sack überstülpten. Keine Menschenseele weit und breit – auf dem Bahnhof gibt’s kein Personal. Also hab’ ich mich eingemischt. Eine Weile lang ging’s gut. Aber es waren einfach zu viele. Vier, glaube ich.«
»Auch wieder eine von Ihren Klemmen, was?« Sheila war schockiert, wie lächerlich glücklich ihr zumute war; zugleich überlegte sie aber auch, ob Dick Evans wohl ein junger Mann von vornehmer Erscheinung war. »Haben sie Ihnen auch einen Sack übergestülpt?«
»Nein, mir haben sie einfach nur eins über die Rübe gegeben. Und deshalb sind wir jetzt hier.«
»Und wo ist hier?«
»Eine Kate irgendwo in der Einöde, nehme ich an. Derzeit von tiefer Nacht umfangen. Übrigens nicht die Nacht, die Sie vermuten werden. Wir kamen in den frühen Morgenstunden her, denke ich, und Sie haben einen ganzen Tag verschlafen. Haben Sie die Milch getrunken?«
»Ja.«
»Gibt es ein Bett oder so was da unten?«
»Ja.«
»Dann legen Sie sich hin und schlafen Sie.«
»Was ist mit Ihnen und Ihren Fesseln?«
»Das«, sagte die Stimme von Evans grimmig, »wird noch ein gutes Stück Arbeit. Das braucht Zeit. Sie schlafen inzwischen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Sheila legte sich wieder auf ihr Bett und schloß die Augen. Sofort versank sie in traumlosen Schlaf.
Aber schon binnen Minuten, so kam es ihr zumindest vor, war sie wieder hellwach. Die Knie schlotterten ihr, und sie brachte keinen Laut hervor. Da war etwas im Zimmer. Und es hatte sie an den Haaren berührt.
Flapp. Ein kleiner, aber schwerer Laut. Flapp … flapp … flapp – es kam nacheinander aus allen Ecken des Zimmers, dann berührte wieder etwas ihr Haar. Eine Fledermaus. Das war nichts weiter als eine Fledermaus. Aber der Schrecken blieb; hilflos lag sie da und wartete auf das Geräusch. Flapp-flappflapp – jetzt bewegte sich der nervöse kleine Geselle schon rascher, hielt ein wenig Abstand … Sheila rührte sich nicht – daß sie wußte, daß es eine Fledermaus war, und es ihr trotzdem einen solchen Schrecken einjagte, das machte ihr nun seinerseits angst. Flapp – ein Flügel hatte ihren Mund berührt, und mit einem Male hatte sie wieder Gewalt über ihre Stimme. »Mr. Evans!«
»Ja?«
»Etwas ist hier im Zimmer. Und ich …«
»Sicher. Haben Sie einen Kamin da unten?« Evans’ Stimme war erschöpft, doch ruhig.
»Ich glaube ja.«
»Dann ist es eine Fledermaus. Das bringt Glück, wenn eine Fledermaus durch den Schornstein kommt.« Sheila sagte nichts; wieder brachte sie keinen Ton heraus. »Sheila!« Er sagte es mit mahnender Stimme. »Die Fledermaus bringt uns Glück – hören Sie? Bei uns zu Hause ist mal eine Fledermaus durch den Kamin gekommen, und meine Mutter hatte furchtbare Angst. Aber am nächsten Tag hat Dad das größte Geschäft seines Lebens gemacht. Gleich hängt sie sich irgendwo an den Zehen auf und geht schlafen. Und genau das sollten Sie auch machen.«
Sheila stieß einen Seufzer aus und staunte selbst, wie lang er war. »Dazu habe ich nicht die passenden Zehen.«
»Na also, es geht doch. Schlafen Sie gut.«
Als Sheila von neuem erwachte, kam kaltes Licht durch die Tür. Und ein nackter junger Riese, ein wenig stoppelbärtig, betrachtete sie mit freundlichen Augen vom Fuß des Bettes aus.
Kapitel 8
Ein Bürger der Vereinigten Staaten mischt sich ein
Ganz nackt war der Riese doch nicht, er trug ausgefranste Khakishorts und ein Paar gewaltige Wanderschuhe. Sheila richtete sich auf und sprach als erste. »Ihre Handgelenke!« rief sie.
Evans nickte. »Die Burschen verstehen ihre Arbeit«, sagte er, als sei nichts dabei. Und fragte: »Was machen wir jetzt?«
»Wir rufen die Polizei.«
Er lächelte. »Können Sie aufstehen? Dann kommen Sie nach draußen.«
Sie durchquerten einen zweiten niedrigen Raum und gelangten ins Freie. Es war so kalt draußen, daß es Sheila den Hals zuschnürte. Aber nicht nur das nahm ihr den Atem; es war auch der Blick, der sich ihr bot. Sie standen auf steinigem Grund, offenbar hoch im Gebirge, und so öde, als hätte die Natur das Land ausgesetzt und für alle Zeiten verstoßen. Und rundum – bald leise ziehend, bald still wie ein Leichentuch – hingen in dicken Schichten Wolken und Nebel: Nebel
Weitere Kostenlose Bücher