Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
mitnehmen?« fragte Appleby. »Ich gebe Ihnen eine Quittung.«
Tufton nickte finster und steuerte seinen Besucher in Richtung Tür; offenbar war ihm wieder eingefallen, wie außerordentlich beschäftigt er war. Aber am Treppenabsatz verharrte er, als habe er noch etwas auf dem Herzen. »Wissen Sie«, sagte er, »manchmal habe ich Alpträume.«
»Alpträume?«
»Mir träumt, daß Dr. Borer noch unter uns sei. Daß er seine Sammlung erweitere. Seine Tagebuchblätter verfasse. Korrespondenzen führe.« Mit Pfeife und Feuerlöscher machte Tufton eine weit ausholende Bewegung, die all die modernden Lederbände, die papierne Sintflut und die gelehrten Hindus umfaßte. »Und daß wir ihn niemals einholen können.«
Er strich sich noch einmal über den Bart, dann wandte er sich ab. Und vorsichtig suchte Appleby sich einen Weg ins Freie.
London im Sonnenlicht. Gleich hinter dem Platz wurde ein Haus abgerissen. Ein Arbeiter saß in schwindelnder Höhe oben auf einem Kran und trug ein Hemd, dessen Aufdruck für ein Nerventonikum warb. London im Jahre 1939. Appleby ermahnte sich, weswegen er hier war, und hielt ein Taxi an, und als er Platz genommen hatte, schlug er Philip Plossens Tagebuch auf.
Der letzte Eintrag war auf Donnerstag datiert – einen Tag vor seinem Tod:
Wieder chez Borer. Tufton ist dahintergekommen, daß ich Verse schreibe, und fragt mich, ob ich mit William Morris bekannt bin, dem ungestümen Burschen mit dem Bart. O verehrter, o gesegneter Sweetapple, daß du mich in dieses Paradies geführt hast!
Projekt: Ein panegyrischer Essay über Melancholie und Verzweiflung.
Seltsamer Vorfall im Zug. Drei Männer im Abteil, allesamt praktisch stumm, bis einer – ausgerechnet – über Dichtkunst zu reden anfängt. Wie sie darauf kamen, kann ich nicht sagen; ich spitzte erst die Ohren, als der Name Ploss fiel. Einer gab ein Gedicht zum Besten, das angeblich von mir war. Aber es war nicht von mir! Und ich konnte nicht anders, ich mußte ihn unterbrechen und ihm erklären, warum es nicht sein konnte. Dumm von mir, denn es war ihm anzusehen, wie sehr er sich ärgerte – erwischte ihn bei einem bitterbösen Blick. Ein paar Zeilen sind mir im Gedächtnis geblieben. Genauer gesagt gehen sie mir nicht mehr aus dem Kopf, habe sogar schon Schritte unternommen, den wahren Autor zu finden. Äußerst skurrile Szene, will gar nicht versuchen, die merkwürdige Stimmung zu beschreiben. Borer ohnehin ein abschreckendes Beispiel, vielleicht doch keine gute Idee mit dem Tagebuch.
Mittagessen mit einem der Inder. Hat Altgotisch studiert und eine Dissertation über Wordsworths politische Sonette geschrieben. Sympathischer Bursche.
Zwischenfall im Zug verdirbt mir die Stunden mit Sweetapple. Muß immer wieder dran denken. Als ob der Kerl mit den falschen Versen das Gefühl gehabt hätte, ich sei ihm bei irgendwas auf die Schliche gekommen. Keine Ahnung, wobei.
Später. Ein sehr beunruhigender Gedanke kommt mir. Unglaublich, wenn der Weg von Lark hierher dorthin geführt hätte. Aber was soll es anderes sein? 172 436.
Das Taxi kam genauso abrupt zum Stehen wie Plossens Tagebuch. Appleby blickte auf und sah, daß sie vor Scotland Yard standen. 172 436 … Geistesabwesend rundete er das Fahrgeld auf, was ihn teuer zu stehen kam, und ging hinein: die Halle, die Treppe, der Korridor, das Vorzimmer …
»Immer dasselbe«, brummte eine ärgerliche Stimme. »Natürlich muß es London gewesen sein, es kann ja nicht anders sein. Wenn Sie mich fragen …« Der Mann, der dort am Schreibtisch in einer Akte blätterte, verstummte, als er Applebys in Gedanken versunkenes Gesicht sah. »Bitte um Verzeihung, Sir. Nichts Wichtiges.«
Appleby ging zu seiner Bürotür. Aber dann gewann die alte Gewohnheit, das geduldige Nachfragen, die Oberhand. Er drehte sich um. »Was ist immer dasselbe?«
»Edinburgh und Glasgow. In Tomatin oder Tobermory verschwindet ein leichtsinniges Mädchen, und der erste Gedanke, den sie haben, ist, daß es ja nur hier in London unter die Räder gekommen sein kann, und wir haben nicht aufgepaßt.« Ärgerlich schlug der Sergeant die Akte zu.
»Ein Mädchen ist verschwunden?«
»Jawohl, Sir. Eine gewisse Grant – Sheila Grant. Bei einer Zugfahrt auf der Highlandstrecke.«
Appleby nickte und öffnete die Tür. »Es geht nicht zufällig«, fragte er müßig, »um Verse dabei?«
Der Sergeant sah ihn mit großen Augen an. »Doch, tatsächlich«, sagte er. »Das ist das Merkwürdige daran. Es hat was mit
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