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Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Titel: Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Vorplatz und versteckte sich zwischen den ersten Bäumen. Sie hätte daran denken sollen, den Alten zu fragen, wo sie waren. Aber ihr Leben hing von Sekundenbruchteilen ab. Und als sie nun weiterlief, hatte sie das Gefühl, daß es schon sehr lange so war. Allmählich wurde sie müde.
    Doch nun war sie am Waldrand, und der Wald nahm sie auf. Hinter einem Baum verborgen, drehte sie sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf den Bahnhof. Sie konnte das Dach des zweiten Waggons sehen, der gerade ratternd einlief; und jenseits des Schuppens sah sie den blinden Fiedler auf und ab gehen. Harry McQueen: plötzlich fiel ihr sein Name wieder ein. Ein uralter Mann, aber anscheinend nicht älter als damals, als er auf dem Bahnhof von Kingussie seine Fiedel spielte, als sie noch ein Kind war …
    Das Bild verschwand; es war, als bezögen die Bäume schweigend hinter ihr Stellung, wie eine Nachhut. Sie hörte einen Schlag, gleich darauf eine einzelne Kommandostimme. Und dann, bizarr, auch jetzt, wo sie auf der Flucht war, noch angsteinflößend, kam der Klang der Fiedel. Zuerst eine einzelne Note, dann ein zitternder Akkord, dann eine Melodie. Johnny Cope . Der blinde Harry begrüßte seine Rotröcke, wie sie es verdienten.
    Sie lief weiter, und bald waren die Laute verstummt. Ein Teppich aus Kiefernnadeln, hier am Waldrand vom Regen zu beinahe Orangerot verwittert, ließ sie lautlos vorankommen, wie ein Geschöpf der Natur; es war, als sei die Luft selbst stumm geworden. Sie hielt inne – und hörte nur noch ihren eigenen Herzschlag. Es war eine Welt nur aus Bildern und Gerüchen: die geraden, hoch aufragenden Kiefernstämme, streng wie die Säulen einer Kathedrale; die Aromen – würzig, modrig, fein und vielfältig –, waren, als rührten sie unmittelbar an die Wurzeln des Lebens. Sheila spürte, wie sie bebte. Sie war müde und hungrig und verängstigt; einen Moment lang war ihr, als warte der ganze Wald nur auf das Kommando, über sie herzufallen. Tritt ein in den Zauberwald, wenn du den Mut dazu hast. Unwillkürlich holte sie Dick Evans’ Kompaß aus der Tasche. Fürchte dich, und es ist um dich geschehen. Sie war ganz auf sich gestellt, und sie durfte nicht die Nerven verlieren. Im Wald die Nerven zu verlieren, sagte sie sich, das bedeutete Panik. Und das konnte sie sich nicht leisten. Sie würde sich südostwärts halten, hinunter ins Tal. Hinter ihr lagen ein Dorf und eine asphaltierte Straße. Sie mußte nur weitergehen, und früher oder später würde sie eine Siedlung von einer Größe finden, in der ihr Gegner machtlos war. Nur weitergehen …
    Es war anders als im Moor. Es gab keinen Horizont, an dem man einen Punkt als Ziel nehmen konnte, keine nicht ganz so bleigraue Stelle am Himmel, hinter der sich die Sonne vermuten ließ. Ringsum gab es nichts als Kiefern, vereint in ihrem Streben nach Licht, und die endlosen Reihen identischer Stämme verspotteten ihren stolpernden Versuch, hindurch und wieder ins Freie zu kommen. Es war eine gnadenlose Disziplin, gerade jetzt, wo ihre eigene nachließ. Die Ballettänzer, die immer im Kreis gingen. Eine Zeichnung von Daumier, ein Gefängnishof. Immer und immer wieder im Kreis … Sheila blieb stehen. Die scheinbar endlosen Baumreihen waren unterbrochen. Vor ihr lag eine offene Fläche. Sie war an eine lange gerade Schneise gekommen.
    Gefahr. Die Geschichte von einem Mann, der nicht über die Straße kam und schließlich gefaßt wurde, weil er es nicht riskieren konnte, das breite Band zu überqueren … Da war jemand auf dem Weg.
    Sie zog sich zurück in Deckung, zu erschöpft, um weiterzufliehen. In ihrem Kopf hörte sie leise die Fiedel von Harry McQueen, wie Musik, der man vor kurzem gelauscht hat und die im Inneren noch nachklingt. Und wieder ein Schwall davon. Sie reckte den Kopf und sah, daß der Mann auf der Lichtung verschwunden war. Aber wieder hörte sie die Fiedel. Sie wartete, und er erschien von neuem: es war der blinde Fiedler, der zwischen den Bäumen hervorgestolpert und mit unsicheren Schritten die Schneise entlang auf sie zu kam. Er blieb stehen, und sie sah, wie er die Fiedel ans Kinn setzte, einmal den Bogen darüberführte, dann weiterstolperte. Und jetzt war er nahe genug herangekommen, daß sie leise rufen konnte: »Mr.   McQueen! Harry McQueen!«
    Er drehte sein Gesicht genau in ihre Richtung und kam mit seltsam sicheren Schritten auf sie zu. Sie lief ihm entgegen, faßte ihn am Arm und führte ihn in die Deckung zwischen den Bäumen.

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