Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
war erstaunlich sanft. Sie kletterte hinaus auf den einzigen Bahnsteig und musterte den Schuppen, der dort stand. Wieder war es nur ein kleiner Haltepunkt, und kein Mensch war zu sehen. Aber es gab eine Asphaltstraße, und in weniger als fünfhundert Metern Entfernung sah sie die Dächer eines Dörfleins. Es hatte sich alles gar nicht so schlecht ergeben, fand sie – sie stand mit heilen Knochen da, und die Feinde waren weit abgeschlagen, jenseits jener gefährlichen Schlucht. Sheila blickte noch einmal in die Richtung, aus der sie gekommen war – und es war, als legten sich unsichtbare Hände um ihr Herz. Denn über die abschüssige Strecke kam ein weiterer Wagen auf sie zu gerollt, der andere der beiden, die auf dem Bahnhof oben gestanden hatten. Daran hatte sie nicht gedacht.
Sie mußte versuchen, das Dorf zu erreichen. Aber was konnte ein schottischer Weiler gegen ein halbes Dutzend bewaffneter Männer ausrichten? Sie hätte schon eine Burg gebraucht, Edinburgh Castle am besten. Mit einem Trupp der Schottischen Garde.
Wahrscheinlich würde sie nicht einmal das Dorf erreichen. Sheilas Augen wanderten zurück zu ihrem Wagen, und sie überlegte, ob sie sich darin verbarrikadieren sollte. Solche Wagen mußten doch … Sie suchte in ihren Taschen nach, dann stieg sie noch einmal hinunter auf die Gleise. Was sie tun mußte, dauerte nicht einmal eine Minute; sie kletterte zurück auf den Bahnsteig, lief ihn entlang und bog um die Ecke des Schuppens.
Ganz allein war sie doch nicht. Es war jemand aus dem Zug gestiegen und saß nun regennaß und dampfend in der launigen Sonne. Es war ein abgerissener alter Mann in karierter Kappe, mit einer Geige auf den Knien und einem kleinen Stapel papiergebundener Bücher neben sich.
Und Sheila sah, daß er blind war.
Kapitel 14
»Johnny Cope«
Der Alte erhob sich, als Sheila auf ihn zugelaufen kam; er erhob sich und hielt ihr das oberste von seinem Stoß Bücher hin. »Gedichte«, rief er. »Gedichte von einem Mann aus Moray.« Er hielt den Band höher mit zitternden Fingern. »Die Philosophie eines Fiedlers. Ein Shilling.«
In einer knappen Minute mußten die Verfolger im Bahnhof sein, und unter diesen Umständen hätten seine Worte nicht exotischer sein können. Trotzdem blieb Sheila stehen wie verzaubert: ein uralter Spruch, der noch immer seine Wirkung tat. Eine Stimme, die geübt darin war, den geschäftigen Reisenden Einhalt zu gebieten, belebt vom Geist der Troubadoure, die den Tumult des Alltags zum Stillstand bringen konnten: Barons, écoutez-moi, et cessez vos querelles … Der Zauber dauerte nur eine Sekunde, aber er befreite ihre Zunge. »Ich werde von Männern verfolgt, die gleich die Bahngleise herunterkommen«, sagte sie hastig. »Sie dürfen mich nicht fassen. Wie groß ist das Dorf – kann ich dort Hilfe bekommen?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Kopf und Hände des blinden Fiedlers zuckten unschlüssig. Es war, als müsse er sich durch eine unsichtbare Wand kämpfen. Er sprach mit neuer Stimme. »Sind es die Rotröcke?« fragte er. »Sind es die Rotrökke, die hinter dir her sind, Kind?«
»Es sind Deutsche, Fiedler – deutsche Agenten.«
Wieder wackelte er mit dem Kopf. »Ah«, sagte er. »Rotröcke und Hannoveraner.«
Der Mann war verrückt. Sie wollte laufen, aber der Alte packte sie am Arm und hielt sie mit eisernem Griff fest. »Die Rotröcke und die Hessen, die können mit Trommeln und Pfeifen auf der Royal Mile marschieren«, sagte er. »Aber hier in der Heide, da taugen sie nichts. Geh nicht zum Dorf, Kind, bleib draußen im Moor.« Er drehte sie in eine andere Richtung, mit einer Kraft, die den Eindruck der übernatürlichen Erscheinung noch unterstrich. Er streckte die Hand aus, in der er noch immer das Buch hielt. »Oder geh einsam in die Wälder.« Nun nahm seine Miene etwas Verschwörerisches an. »Geh in die Wälder, Kind, und wenn sie kommen und nach dir fragen, schicke ich sie fort.«
Sie machte sich auf den Weg, unschlüssig, wie wörtlich sie ihn nehmen sollte. Aber ihr Blick war der Richtung gefolgt, die er wies, und sie sah, daß zur Rechten der Straße das Land zunächst in eine Reihe von Baumgrüppchen, dann in einen großen Kiefernwald in einem flachen Tal überging. Geh einsam in die Wälder. Still und unauffällig. Vielleicht besser, als Zuflucht bei ein paar alten Frauen in dem Weiler zu suchen. Zumal die Häuser zu weit fort waren – anders als der Waldrand, denn den konnte sie noch erreichen. Sheila lief über den
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