Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
sagte Sheila, »ich habe einen Kompaß, aber ich kann nicht versprechen, daß ich euch weiter geradeaus führen kann.«
»Keine Sorge, Kind, du machst es richtig.« Der Blinde blieb stehen, legte sein Bündel ab und klemmte sich die Fiedel unters Kinn.
»Aber Harry, wenn ihr jetzt spielt, könnten die Agenten euch hören – die Rotröcke, meine ich.«
»Vielleicht hören sie mich, Kind – dann sollen sie eben hören.« Der Bogen fuhr langsam über die Saiten und wieder zurück. Und es klang wie der Ruf eines verzweifelten Vogels hoch in den Lüften.
»Aber Harry …« Sheila verstummte. Der Fiedler lauschte angestrengt, als warte er auf Antwort von einem noch wahnwitzigen Genossen in weiter Ferne. »Geradewegs weiter, auch wenn es noch so steil ist.«
Etwa zweihundert Meter lang stiegen sie steil bergauf, und Sheila hatte den Eindruck, daß die Bäume, zwischen denen sie schritten, lichter wurden. Wieder blieb Harry McQueen stehen, strich einen Ton auf seiner Fiedel, horchte. Wieder änderten sie ihre Richtung. »Kind«, fragte er verwundert, als sie weitergingen, »hörst du es denn nicht?«
»Ich höre nichts, Harry.«
Er lachte, und es rührte sie, wie jung und fröhlich dieses Lachen war. Mit einer unvermuteten Bewegung tätschelte er ihr den Arm. »Es gibt Sachen, die können die Alten hören, und die Jungen haben kein Ohr dafür. Manche davon wichtiger als das hier. Aber horch noch einmal.«
Wieder stiegen die beiden fremdartigen Töne auf, ein Schrei, der so fremd war und doch zu Herzen ging, die Essenz eines Vogelrufes. Sheila lauschte aufmerksam, und diesmal hörte sie den Laut noch einmal leise in der Ferne. »Ein Echo, Harry.«
»So ist es. Ein Echo von der Wolfshöhle. Das ist unsere Richtung.«
»Was ist die Wolfshöhle, Harry – und warum heißt sie so?«
»Es ist ein Ausguck, Kind, wo sich einst der Wolf von Badenoch verbarg – der schändliche Graf von Buchan vor langer Zeit, Alexander Stewart, der die eine Kathedrale anzündete und in der anderen begraben liegt, mit einem großen Stein über sich. Es ist nur eines von vielen Verstecken, die er hatte, und sie heißen alle die Wolfshöhle. Aber jetzt sollten wir den Atem sparen, Mädchen, für den Aufstieg.«
Und tatsächlich war es ein Aufstieg, für den Sheila allen Atem brauchte, den sie noch in sich hatte. Die Bäume standen nun spärlich, sie waren in eine Höhe gekommen, wo nackter Stein durch den Teppich von Kiefernnadeln schimmerte, und braunes Farnkraut wuchs zwischen den Grüppchen von Bäumen. Das letzte Stück mußten sie klettern. Harry McQueen blieb stehen; er atmete so schwer, daß Sheila schon fürchtete, sie und die Rotröcke hätten ihn am Ende auf dem Gewissen. »Sieh hinauf, Kind«, sagte er, »und sage mir, ob du die Vogelbeerbäume siehst.«
»Ich sehe Ebereschen, Harry, und darüber wieder Kiefern.«
»Dann sind wir am Ziel, Kind. Hier können sie uns nichts mehr tun.«
Sie stiegen noch höher, an den Ebereschen vorbei, und in eine schmale Felsspalte an der Flanke des Berges. In ihrem Inneren führte der Weg weiter im Bogen aufwärts, wobei die Seitenwände immer steiler aufragten. Sie mußten hintereinander gehen, und der Blinde kam nun nur noch mit Mühen voran. Nicht lange, und Sheila, die voranging, blieb stehen. »Weiter geht es nicht, Harry. Hier sind nur noch Felsen.«
Der blinde Mann lachte leise und atemlos hinter ihr. »Nur Fels? Und zu deinen Füßen, ist da auch Fels?«
»Zu meinen Füßen ist Farnkraut, Fiedler.«
»Sieh nach, Kind.«
Sheila teilte den Vorhang aus Farn. Dahinter verbarg sich eine Öffnung wie ein Tunnel. Sie krochen hindurch. Die schmale Felsspalte setzte sich fort, bis die eine Wand aufhörte und sie auf eine Art Felsplateau kamen, das über Baumwipfel hinweg den gesamten Wald überblickte, durch den sie gekommen waren. Am anderen Ende des Plateaus lief ein Rinnsal hinunter, wohl von einer Quelle noch weiter oben. Und auf der Rückseite war eine kleine, trockene Höhle.
Erschöpft ließ Sheila sich auf einen Felsbrocken sinken. Sie sah, daß die Wipfel der höchsten Kiefern über das Plateau hinausragten, so daß es gegen jeden Blick von unten geschützt war. Alexander Stewart, wenn er jemals wirklich hier gewesen war, hatte sich seinen Adlerhorst gut ausgesucht. Kein Gegner, der Wald und Hügel durchsuchte, würde diese Zuflucht bemerken. Aber, ermahnte sich Sheila, sie war ja keine Verbrecherin, die ein Versteck brauchte; sie mußte sich nur ausruhen, und dann mußte sie
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