Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Kutsche und schaut herein. Eine alte Z i geunerin. Ein reich bestickter Schal ist fest um ihren Kopf g e schlungen und ihr Schmuck ist aus purem Gold, aber sonst trägt sie nur Lu m pen am Leib.
»Und was nun?« ; seufzt Tom.
Ich strecke meinen Kopf hinaus. Als das Mon d licht auf mein Gesicht fällt, werden die Züge der Frau weich. »Oh, du bist ’ s. Du bist zurückgeko m men.«
»Tut mir leid, Madam. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
»Oh, aber wo ist Carolina? Wo ist sie? Habt ihr sie mi t genommen?« Die Frau beginnt leise zu wimmern.
»Kommen Sie, gute Frau, lassen Sie uns vorbei«, ruft der Kutscher. »Na also, warum nicht gleich.«
Mit einem Schnalzen der Zügel setzt sich die Kutsche wieder in Bewegung und die alte Frau ruft uns hinterher. »Mutter Elena sieht alles. Sie kennt dein Herz! Sie weiß Bescheid!«
»Gütiger Gott, sie haben ihre eigene Hellseherin«, spö t telt Tom. »Wie vornehm!«
Tom hat gut lachen, aber ich kann es kaum erwa r ten, aus der Kutsche und der Dunkelheit herausz u kommen.
Das Pferd zieht uns in den steinernen Bogengang und durch ein Tor, hinter dem sich ein herrlicher Park befindet. Ich kann eine wunderschöne grüne Fläche erkennen, ideal, um Rasentennis oder Krocket zu spielen, und direkt daneben üppige, blühende Gä r ten. Etwas weiter entfernt liegt ein Hain von h ohen Bä u men, dicht wie ein Wald. Auf einem Hügel, der sich hinter den Bäumen erhebt, thront eine Kapelle. Das Ganze wirkt, als habe die Zeit seit Jah r hunderten stillgestanden.
Die Kutsche holpert den Weg hinauf, der zur Eingang s tür von Spence führt. Ich recke meinen Kopf aus dem Fen s ter, um das ganze wuchtige Ausmaß des Gebäudes in mich aufzunehmen. Irgendetwas ragt aus dem Dach heraus. Im schwindenden Licht ist es schwer zu erkennen. Der Mond gleitet unter einer Wolkenbank hervor und ich sehe es deutlich: Wasserspeier. Mondlicht erhellt das Dach und beleuchtet Einzelheiten –einen spitzen Zahn, ein geifer n des Maul, hervorquellende Augen.
Willkommen im Mädchenpensionat, Gemma. Lerne st i cken, Tee servieren, Höflichkeit. Oh, und übr i gens, du könntest eines Nachts von einem grässlichen geflügelten Geschöpf vom Dach vernichtet werden.
Die Kutsche kommt ächzend zum Stehen. Mein Koffer wird auf den breiten steinernen Stufen vor der hölzernen Eingangstür abgestellt. Tom schlägt den schweren Me s singring des Türklopfers an. Er kann es nicht lassen, mir während des Wartens noch ein paar brüderliche Ratschläge zu erteilen.
»Denk daran, es ist jetzt sehr wichtig, dass du während deines Aufenthalts in Spence ein gezieme n des Benehmen an den Tag legst. Es ist nett, zu den geringeren Mädchen freundlich zu sein, aber vergiss nicht, dass ihr einander nicht ebenbürtig seid.«
Geziemendes Benehmen. Geringere Mädchen. Nicht eben b ärtig. Es ist wirklich zum Totlachen. Schließlich bin ich die missratene Tochter, die für den Tod ihrer Mutter verantwortlich ist, diejenige, die Visionen hat. Ich tue so, als würde ich im spi e gelblanken Messing des Türklopfers meinen Hut zurechtrücken. Jeder Hauch einer bösen Vo r ahnung wird wahrscheinlich verschwinden, sobald die Tür aufgeht und eine freundliche Haushälterin mich li e bevoll in die Arme nimmt und mit einem warmen Lächeln wil l kommen heißt.
Genau. Ich bin ein ordentliches, gediegenes Mädchen, wie es jedes Internat mit dem größten Vergn ü gen bei sich aufnehmen würde. Die schwere Eiche n tür öffnet sich und vor uns steht ein Bollwerk von einer Haushälterin, mit schroffen Gesichtszügen, plumper, formloser Taille und der Wärme eines Wals im Januar. Sie schaut mich durc h dringend an, wä h rend sie ihre Hände an ihrer gestärkten weißen Schürze abwischt.
»Sie müssen Miss Doyle sein. Wir haben Sie vor einer halben Stunde erwartet. Sie haben die Direkt o rin warten lassen. Kommen Sie. Folgen Sie mir.«
Die Haushälterin bittet uns, einen Augenblick in dem gr o ßen, schlecht beleuchteten Empfangszimmer voll staubiger Bücher und vertrockneter Farne zu warten. Im Kamin brennt ein Feuer. Es knistert und prasselt, während es das trockene Holz verschlingt. Gelächter dringt kurze Zeit sp ä ter durch die offene Tür, ich sehe mehrere jüngere Mä d chen in weißen Kittelschü r zen durch die Halle schlendern. Eine schaut he r ein, sieht mich und geht weiter, als wäre ich nicht mehr als ein Möbelstück. Aber im nächsten Moment ist sie mit ein paar anderen zurück. Sie
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