Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
beginnt Tom. »Gemma …«
»Aber wo ist er?«
»Hallo, Gemma.«
Ich sehe Vater erst gar nicht. Er steht hinter Tom, fast ganz von ihm verdeckt, ein Geist in seinem schlecht si t zenden schwarzen Anzug. Tiefe Ringe liegen unter seinen Augen. Großmama nimmt seinen Arm, bemüht, sein heft i ges Zittern zu verbergen. Bestimmt hat sie ihm nur ein M i nimum seiner üblichen Dosis gegeben, damit er durchhält, und ihm mehr davon für später versprochen. Alles was ich tun kann, ist nicht zu weinen.
Ich schäme mich, dass Ann und die anderen ihn so s e hen.
Und ich schäme mich, dass ich mich schäme.
»Hallo, Vater«, stoße ich mühsam hervor und küsse se i ne eingefallenen Wangen.
»Wusste jemand, dass wir heute eine Königin s e hen werden?«, scherzt er. Sein Lachen schlägt in heftiges Hu s ten um und Tom muss ihn festhalten. Ich kann Ann nicht ansehen.
»Im Ballsaal wird Tee serviert«, sage ich und bugsiere sie die Treppe hoch. Ich steuere einen ruhigen, allein st e henden Tisch an, abseits des Gewimmels, fern von Klatsch und Tratsch. Sobald wir Platz g e nommen haben, stelle ich Ann vor.
»Reizend, Sie wiederzusehen, Miss Bradshaw«, sagt Tom. Ann bekommt einen roten Kopf.
»Und wo ist Ihre Familie heute?«, fragt meine Großmu t ter und schaut dabei nach einem interessanteren G e sprächspartner als uns beiden aus. Diese Frage war zu e r warten und sie verlangt nach einer Antwort. Und dann werden wir alle in betretenem Schweigen dasitzen oder Großmutter wird unter dem Mäntelchen der Freundlichkeit etwas Unfreundliches sagen.
»Sie sind im Ausland«, lüge ich.
Zum Glück versucht Ann nicht, mir zu widerspr e chen. Wahrscheinlich ist sie froh, dass es ihr erspart bleibt, erkl ä ren zu müssen, dass sie eine Waise ist, und das höfliche, schweigende Mitleid meiner Fam i lie zu ertragen. Plötzlich ist Großmutters Interesse geweckt und ich bin überzeugt, dass sie sich jetzt fragt, ob Anns Angehörige reich sind oder von Adel oder beides.
»Wie aufregend. Wohin geht die Reise?«
»In die Schweiz«, sage ich. »Nach Österreich«, sagt Ann gleichzeitig.
»Nach Österreich und in die Schweiz«, sage ich. »Es ist eine ausgedehnte Reise.«
»Österreich«, beginnt mein Vater. »Es gibt da e i nen sehr komischen Witz über Österreicher …« Er verstummt, wä h rend das Zittern seiner Finger überhandnimmt.
»Ja, Vater?«
»Hmmm?«
»Du sagtest etwas über die Österreicher«, erinnere ich ihn.
Er zieht seine Brauen zusammen. »Ah ja?«
Ich habe einen Kloß im Hals, der sich nicht hinunte r schlu c ken lässt. Ich reiche Tom die Zuckerdose. Ann ve r folgt fasziniert jede Bewegung seiner Augen, obwohl er sie kaum beachtet.
»Und …« , beginnt Tom und lässt drei Stück Zucker in seinen Tee fallen. »Miss Bradshaw, hat meine Schwester Sie schon mit ihrer direkten Art in den Wahnsinn getri e ben?«
Ann errötet. »Gemma ist ein sehr liebenswürdiges Mä d chen.«
»Liebenswürdig? Sprechen wir von ein und derselben Gemma Doyle? Großmama, Spence ist a n scheinend mehr als nur eine Schule. Es ist ein Haus, in dem Wunder g e schehen.«
Alle lachen höflich auf meine Kosten, und ehrlich g e sagt, es macht mir nichts aus. Ich finde es so wu n derbar, sie lachen zu hören, dass sie sich von mir aus den ganzen Nachmittag über mich lustig machen können. Vater ha n tiert mit seinem Löffel, als wüsste er nicht, was er damit tun soll.
»Vater«, sage ich zärtlich. »Soll ich dir Tee ei n gießen?«
Er schenkt mir ein mattes Lächeln. »Ja, danke, Virg i nia.«
Virginia. Ein betretenes Schweigen folgt, als er den N a men meiner Mutter ausspricht. Tom rührt in seinem Tee, als hinge sein Leben davon ab.
»Vater, ich bin es. Gemma«, sage ich ruhig.
Er blinzelt, legt seinen Kopf von einer Seite auf die a n dere, betrachtet mich. Langsam nickt er. »O ja. Richtig.« Dann fängt er wieder an, mit seinem Löffel zu spielen.
Mein Herz sinkt wie ein Stein zu Boden. Wir machen höfliche Konversation. Großmama erzählt uns von ihrem Gar t en und ihren Gesellschaften und wer mit wem zurzeit nicht redet. Tom verbreitet sich über sein Studium und Ann hängt an seinen Lippen, als wäre jedes seiner Worte heilig. Vater hat sich völlig in sich zurückgezogen. Niemand fragt mich, wie es mir geht und was ich treibe. Ihr Interesse könnte nicht geringer sein. Wir Mädchen sind allesamt Spiegel, nur dazu da, um ihnen ihr eigenes Bild zu refle k tieren, das sie genau so zeigt, wie sie gesehen werden
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