Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Es ist typisch Pippa, so etwas zu fragen –dumm und unüberlegt.
»Was ist, wenn ich mich das nächste Mal weigere, euch hierher zu bringen?«
Felicity hat es geschafft, ein kleines Kaninchen zu töten. Es hängt schlaff und leblos an ihrem Pfeil. »Was gibt ’ s?«
Pippa verzieht den Mund. »Gemma will uns nicht wi e der hierher bringen.«
Felicity hält noch immer den blutigen Pfeil in der Hand. »Was soll das, Gemma?« Ihr Gesicht ist hart und en t schlossen und sie durchbohrt mich mit ihrem Blick, bis ich nachgebe und das Wettstarren beende, indem ich die A u gen abwe n de.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber du hast es angedeutet«, mault Pippa.
»Können wir diesen ganzen blödsinnigen Streit nicht einfach vergessen?«, sage ich scharf.
»Gemma.« Pippa schiebt ihre Unterlippe zu einem übe r triebenen Schmollmund vor. »Sei nicht böse.«
Felicity nimmt den gleichen lächerlichen Gesichtsau s druck an. »Gemma, bitte hör auf. Es ist sehr schwer, mit solch einem Mund zu sprechen.«
Ann legt noch ein Schäufelchen nach. »Ich verziehe ke i ne Miene, bevor Gemma nicht lächelt. Ihr könnt mich nicht dazu bringen.«
»Ja.« Felicity kichert hinter ihrem Bulldoggengesicht. »Und überall werden die Leute sagen: › Sie könnten ja so hübsch sein. Ein Jammer, dass sie dieses Lippenproblem h a ben. ‹ «
Ich kann mir das Grinsen nicht mehr verkneifen. Und bald kugeln wir uns vor Lachen auf dem Boden und schneiden die unmöglichsten Gesichter, bis wir völlig e r schöpft sind und es Zeit ist zu gehen.
Das Tor erscheint und wir schlüpfen eine nach der anderen hinaus. Ich bin die Letzte. Meine Haut fängt unter dem g e waltigen Energiestrom des Tors an zu kribbeln. Da erblicke ich meine Mutter, mit dem kleinen Mädchen an der Hand. Das Kleid der Kle i nen unter ihrer großen weißen Schürze ist bunt und ungewöhnlich. Nichts, was man an einer engl i schen Mädchenschule sehen würde. Interessant, dass mir das noch nie aufgefallen ist.
Die beiden sehen mich aufmerksam an ; hoffnungs-und erwartungsvoll. Als könnte ich die Dinge für sie ändern. Aber wie kann ich ihnen helfen, wenn ich mir selbst nicht zu helfen weiß?
26. Kapitel
H e ute ist also der Familientag. In meinem Wörte r buch gibt es keine allgemeingültige Definition dieses Begriffs. Wenn es eine gäbe, könnte sie etwa so la u ten:
Familientag (m) Eine Tradition an englischen Internat s schulen, bei der die Schülerin Besuch em p fangen darf und die für jeden eine Qual und für niemanden eine Freude b e deutet.
Ich habe mein Haar aufgesteckt, mein Korsett festg e zurrt und mein Kleid zugeknöpft, um mich in eine damenhafte Fasson zu bringen –s o g ut es eben geht Aber innerlich bin ich noch immer aufgewühlt von meinem Besuch bei Mutter und unserem Streit. Ich habe mich schrecklich benommen. Heute Nacht we r de ich zu ihr gehen, sie um Verzeihung bitten und ihre warmen Arme wieder um mich spüren.
Trotzdem, wie sehr wünschte ich, ich könnte meiner Familie – besonders Vater –erzählen, dass ich Mutter g e sehen habe. Dass sie irgendwo dort draußen in einer and e ren Welt so lebendig und liebevoll und schön ist, wie wir sie i n Erinnerung haben. Ich habe keine A h nung, was mich unten erwartet, und ich bin entzwe i gerissen zwischen Hoffnung und Furcht. Vielleicht öffnet sich die Tür und Vater kommt herein, wohlg e nährt und gepflegt in seinem eleganten schwarzen Anzug. Er hat mir ein Geschenk mi t gebracht, in glänzendes Papier eing e wickelt. Er drückt mich an sich, nennt mich sein Goldkind und bringt mit se i nen Geschichten sogar die sauertöpfische Brigid zum L a chen. Vielleicht. Vielleicht. Vie l leicht. Gibt es eine Droge, die stärker ist ab dieses Wort?
»Vielleicht könnte ich ja mit dir mitkommen«, sagt Ann, während ich zum hundertsten Mal vers u che, mein Haar zu bändigen. Es will einfach nicht ordentlich gelockt oben auf meinem Kopf bleiben.
»Du würdest dich nach fünf Minuten zu Tode langwe i len«, sage ich und kneife mir Rosen in die Wangen, die aufblühen und sofort wieder verblassen. Ich möchte Ann nicht dabeihaben, zumal ich selbst nicht weiß, was mich erwartet.
»Wird dein Bruder heute kommen?«, fragt Ann.
»Ja, Gott steh uns bei«, murmle ich. Ich will Ann in B e zug auf meinen Bruder nicht ermutigen.
»Du hast wenigstens einen Bruder, der dich ä r gert.«
Im Spiegel des Waschtischs sehe ich Ann, die verloren auf ihrem Bett sitzt, in ihrem besten Kleid, o h
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