Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
um dein Kleid, ja?«
Pippa folgt ihrer Mutter hinaus, dreht sich aber noch einmal zu uns um, mit einem so verzweifelten Blick, dass mir ist, als würde ich selbst gegen meinen Willen zur He i rat gezwungen.
Nun sitzen wir nur noch zu dritt Mrs Nightwing und i h rem ebenso imponierenden Schreibtisch g e genüber. Eine Schublade wird geöffnet. Mary Dowds Tagebuch knallt auf die glänzende Mahagonioberfl ä che. Mein Magen krampft sich zusammen. Jetzt s e hen wir alle unserem Todesurteil entgegen.
»Wer kann mir darüber etwas sagen?«
Sekunden verticken, laut wie Kanonenschüsse, in der Standuhr.
»Miss Bradshaw?«
Ann ist den Tränen nahe. »Es i-s-st ein B-b-b-buch.«
»Ich kann sehen, dass es ein Buch ist. Ich habe jede Se i te studiert.« Mrs Nightwing blickt uns über den Rand ihrer Brille finster an. »Jede Seite.«
Wir wissen, welche sie im Besonderen meint, und zittern auf unseren Stühlen.
»Miss Worthington, hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen, wie Sie in den Besitz dieses Buches gekommen sind?«
Felicity fährt hoch. »Sie haben mein Zimmer durc h sucht?«
»Ich warte auf eine Antwort. Oder werde ich in dieser Angelegenheit Ihren Vater kontaktieren mü s sen?«
Felicity sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbr e chen.
Ich schlucke mühsam. »Es ist meins«, sage ich.
Mrs Nightwing blinzelt mich durch ihre Brille n gläser an. Auf diese Weise ähnelt sie einer Eule, die eine Beute e r späht. »Ihres, Miss Doyle?«
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. »Ja.« Auch gut, sollen sie mich hinauswerfen. Dann ist endlich Schluss mit alldem.
»Und wie, bitte, sind Sie an so einen Schund geko m men?«
»Ich hab ’ s gefunden.«
»Sie haben ’ s gefunden?« Sie wiederholt meine Worte langsam, um deutlich zu machen, wie sehr sie mir glaubt. »Wo?«
»Im Wald.«
Mrs Nightwing starrt mich unverwandt an, doch ich bin zu benommen, um Furcht zu empfinden. »Anscheinend hat sich im Wald eine ganze Menge zugetragen. Miss Cross hat mir alles gestanden.«
Ich höre, wie Ann neben mir zu weinen anfängt und F e licity auf ihrem Stuhl herumrutscht. Aber ich bin völlig abgestumpft und erwarte das Unausweic h liche.
»Sie sagte mir, Miss Moore habe Ihnen das Buch geg e ben.«
Damit habe ich nicht gerechnet. Diese Mitteilung bringt mich mit einem Schlag ins Hier und Jetzt z u rück.
»Ist das wahr?«
Mein Mund öffnet sich, um zu sagen, nein, es ist alles meine Schuld, aber Felicity kommt mir zuvor.
»Ja, das stimmt«, sagt sie so ruhig, dass ich meinen O h ren kaum traue. »Es war Miss Moore.«
»Ich bedaure, das hören zu müssen. Aber ich muss Sie bitten, mir alles zu sagen, Miss Worthington.«
»Nein. Das stimmt nicht«, rufe ich, als ich endlich meine Stimme wiederfinde.
»Du hast selbst gesagt, du hättest es in der Bibliothek gefunden.« Ein harter, verzweifelter Blick trifft mich aus Felicitys Augen. »Und Miss Moore hatte uns gesagt, wenn wir mehr über den Orden des au f gehenden Mondes wissen wollen, dann sollten wir in die Bibliothek gehen.«
»Der Orden des aufgehenden Mondes? Was für einen Unsinn hat Ihnen Miss Moore da in den Kopf gesetzt?«
»Sie hat uns zu der Höhle geführt und uns die Zeichnu n gen an den Wänden gezeigt.«
»Einige davon sind mit Blut gemalt«, fügt Ann hinzu. Sie unterstützt Felicitys Version.
»Ich habe Miss Moore nie erlaubt, mit Ihnen zu dieser Höhle zu gehen«, sagt Mrs Nightwing.
»Trotzdem hat sie uns hingeführt, Mrs Nightwing.« F e licity reißt die Augen weit auf, in dem Ve r such, unschuldig dreinzuschauen.
»So war es nicht. Ich habe das Tagebuch gefu n den …«
Felicity legt eine Hand auf meinen Arm. Nach a u ßen hin wirkt es freundschaftlich, in Wirklichkeit drückt sie dabei aber fest zu. »Mrs Nightwing weiß schon, was geschehen ist, Gemma. Wir müssen jetzt die Wahrheit sagen.« Und zu Mrs Nightwing gewandt: »Sie hat uns sogar einen A b schnitt daraus vorgelesen.«
Ich springe auf. »Weil wir sie darum gebeten h a ben!«
»Miss Doyle, setzen Sie sich sofort wieder hin!«
Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Ich kann Felicity nicht ansehen.
»Das sind sehr schwerwiegende Anschuldigungen gegen Miss Moore.« Mrs Nightwing hat die Idee bereits aufg e nommen und so für sich zurechtgebogen, dass die Schuld weder uns noch Spence noch sie selbst trifft. Sie braucht einen Sündenbock. Sie will alles glauben außer der Wah r heit –nämlich dass wir imstande waren, all das ganz allein, aus freien Stücken zu tun,
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