Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
sagen. Di e sen Gefa l len tun mir die jungen Damen nicht.
Es zieht mich zu der Fotografie des Jahres 1872, mit i h rer gewellten Oberfläche. Vorsichtig entferne ich das Bild von der Wand und drehe es um. Die Rückseite ist glatt, überhaupt nicht beschädigt. Ich betrachte wieder die well i ge Vorderseite. Das ist doch nicht möglich. Außer, es ist gar nicht dieselbe Fotografie.
Ungeduldig zerre ich an den Ecken. Hinter dem Bild im Rahmen befindet sich tatsächlich ein anderes Foto. Acht Mädchen sitzen im Halbkreis auf dem Rasen. Im Hinte r grund zeichnet sich die unverken n bare Silhouette des Schulgebäudes der Spence-Akademie ab. Unter dem Bild steht in säuberlicher Schrift Jahrgang 1871. Ich habe es gefunden! Am unteren Rand lassen sich folgende Namen entziffern.
Von links nach rechts : Millicent Jenkins, Susanna Mer i wether, Anna Nelson, Sarah Rees-Toome …
Mein Kopf schnellt hoch. Mein Finger nimmt die Fährte zu Sarah auf. Sie hat genau in dem Moment, in dem das Foto geknipst wurde, ihren Kopf zur Seite gedreht, sodass nur ein undeutliches, schwer wiede r erkennbares Profil zu sehen ist. Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nicht sehr viel mehr ausm a chen.
Mein Finger wandert weiter zu dem Mädchen neben S a rah. Mein Mund wird trocken. Dieses Mä d chen blickt mit seinen klugen, durchdringenden A u gen –Augen, die ich mein Leben lang gekannt habe –direkt in die Kamera. Ich suche ihren Namen, o b wohl ich schon weiß, wie er lautet, der Name, den sie abgelegt und in einer Feuersbrunst z u rückgelassen hat, Jahre vor meiner Geburt. Mary Dowd.
Das Mädchen, das mir aus dem Klassenfoto von 1871 entgegenblickt, ist Mary Dowd – meine Mutter.
32. Kapitel
I c h warte, bis sich die anderen zum Abendessen versa m melt haben, dann stehle ich mich fort in mein Zimmer. In der zunehmenden Dunkelheit verschwimmen allmä h lich die Umrisse. Alles schrumpft bis auf sein inner s tes Wesen zusammen. Ich bin bereit. Mit geschlossenen Augen rufe ich das Tor he r bei. Der bekannte pulsierende Energiestrom fließt durch meine Adern, ich durchschreite das Tor, allein, und trete in die andere Welt ein, den Garten, wo süß du f tende Blumen rings um mich wie Asche herabri e seln.
»Mutter«, rufe ich. Meine Stimme klingt fremd und schwerfällig in meinen Ohren.
Eine leichte Brise kommt auf. Dahinter, wie R e gen, der Duft von Rosenwasser. Sie kommt.
»Wo bin ich?«, ruft sie mit einem Lächeln. Ein Lächeln, das ich nicht erwidern kann. Ich kann sie nicht mal ans e hen.
»Was ist los?«
Meine Mutter ist kein bisschen die Mutter, für die ich sie gehalten habe. Ich habe sie nie wirklich g e kannt. Sie ist Mary Dowd. Eine Lügnerin und eine Hexe. Eine Mörderin.
»Du bist Mary Dowd.«
Ihr Lächeln schwindet. »Du weißt es?«
Etwas in mir hatte sich an die Hoffnung gekla m mert, dass ich mich geirrt habe, dass sie lachen und mir sagen würde, alles wäre nur ein dummes Mis s verständnis, das jetzt aufgeklärt sei. Die Wahrheit ist schwer zu ertragen.
»Niemand kam zu dir und erzählte dir dieses und jenes über mich. Du wusstest alles. Du warst selbst ein Mitglied des Ordens. Alles, was du mir gesagt hast, war erfunden.«
Ihre Stimme ist überraschend sanft. »Nein. Nicht alles.«
Ich blinzle die Tränen fort. »Du hast mich bel o gen.«
»Nur um dich zu schützen.«
»Das ist noch eine Lüge.« Ich bin so voller Hass, dass es mich fast krank macht. »Wie konntest du nur?«
»Ich habe versucht, es zu vergessen, Gemma.«
»Das ist deine Entschuldigung? Du hast das kleine Mä d chen in den Ostflügel gelockt. Du hast es get ö tet! «
»Ja. Und ich habe jeden Tag meines Lebens dafür g e büßt.« Ein Vogel schmettert von einem Zweig ein Aben d lied. »Alle dachten, ich sei tot, und in gewisser Weise war ich es. Mary war gestorben und an ihre Stelle trat Virginia. Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut, mit deinem Vater und dann mit Tom und dir.«
Die Tränen fallen heiß und nass auf meine Wa n gen. Sie versucht, meine Hand zu nehmen, aber ich trete rasch zur Seite.
»Oh, Gemma, wie hätte ich dir sagen können, was ich getan hatte? Das ist der Fluch der Mütter, weißt du. Wir sind nie darauf vorbereitet, wie sehr wir unsere Kinder li e ben, wie sehr wir uns wünschen, wir könnten sie dadurch beschützen, d ass wir selbst vol l kommen sind.« Sie kämpft mit den Tränen. »Ich dachte, ich könnte noch einmal neu anfangen. Das alles vergessen und frei sein. Aber ich war es nicht.«
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