Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
dort zu verharren. Aber das werde ich nicht. Ich will versuchen, Platz zu schaffen für das, was wirklich ist, für die Dinge, die ich anfassen und ri e chen, schmecken und fühlen kann –Arme um meine Schultern, Tränen und Wut, Enttäuschung und Liebe, das seltsame Gefühl, das mich überkam, als Kartik mich vor seinem Zelt anlächelte und als meine Freundi n nen meine Hände hielten und sagten, wir folgen dir …
Am wirklichsten ist, dass ich Gemma Doyle bin. Ich bin immer noch hier. Und zum ersten Mal nach langer Zeit bin ich sehr dankbar dafür.
Es gibt eine ganze Menge, worüber ich nachde n ken muss, aber jetzt stehe ich am Rand des Flusses. Pi p pas blasses Gesicht stößt von unten gegen das Eis, ihre langen, dun k len Haare breiten sich unter der Oberfläche aus. Ich nehme einen Stein, um das Eis zu durchbrechen. Wasser strömt durch die Sprünge.
Ich muss meine Hand in jenen trüben, verbotenen Fluss stecken. Er ist warm wie ein Bad. Verlockend und sanft. Ich bin versucht, selbst in jenes Wasser einzutauchen, aber jetzt noch nicht. Ich habe Pippas Hand gefasst und ziehe mit aller Kraft, befreie sie mit einem Ruck von dem G e wicht des Was s ers, bis sie am Ufer ist. Sie hustet und spuckt, erbricht Flusswasser in das Gras.
»Pippa? Pippa! « Sie ist bleich und kalt. Tiefe dunkle Ringe liegen unter ihren Augen. »Pip, ich bin gekommen, um dich zurückzuholen.«
Die veilchenblauen Augen öffnen sich.
»Zurück.« Sie verleiht dem Wort einen weichen Klang, blickt sehnsüchtig nach dem Fluss, dessen Geheimnisse ich kennen und gleichzeitig von mir fernhalten will. »Was wird aus mir werden?«
Ich habe keine Kraft mehr übrig, um zu lügen. »Ich weiß es nicht.«
»Dann also Mrs Bartleby Bumble?«
Ich antworte nicht. Sie streichelt mit ihrer kalten, nassen Hand seitlich über meine Wange und ich weiß schon, was sie denkt, nicht weil ich übersinnliche Kräfte besitze, so n dern weil sie meine Freundin ist und ich sie liebe. »Bitte, Pip«, sage ich und schlucke, weil ich ein bisschen weinen muss. »Du musst z u rückkommen. Du musst einfach.«
»Du musst … mein ganzes Leben bestand daraus.«
»Es könnte sich ändern …«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin keine Kämpferin. Nicht so wie du.« Im dürren Gras findet sie eine Handvoll ve r schrumpelter Beeren, nicht größer als Samenkörner. Sie liegen wie Münzen in ihrer Hand.
Meine Kehle zieht sich schmerzhaft zusammen. »Aber wenn du sie isst …«
»Was sagte Miss Moore? Es gibt keine sicheren En t scheidungen . Nur unterschiedliche.« Sie blickt noch einmal auf den Fluss und ihre Hand fliegt zum Mund. Einen M o ment lang ist es so still, dass ich meinen abgehackten Atem hören kann. Und dann fließt Farbe unter ihrer Haut, das Haar ringelt sich zu Locken, die Wangen röten sich. Sie strahlt. Rings um mich erwacht die Landschaft in einem Geriesel von Blüten und goldenen Blättern zum Leben. Am Hor i zont wird ein neuer, rosafarbener Himmel geboren. Und der Ritter steht wartend, ihren Handschuh in seiner Hand.
Die warme Brise hat das Boot an unser Ufer g e tragen.
Es gilt, Abschied zu nehmen. Aber ich hatte in der let z ten Zeit zu viele Abschiede zu verschmerzen und so sage ich nichts. Sie lächelt. Ich erwidere das L ä cheln. Mehr ist nicht nötig. Sie steigt ins Boot und lässt sich von ihm über den Fluss tragen. Als sie die andere Seite erreicht, hilft ihr der Ritter heraus, in das sanfte grüne Gras. Unter dem si l bernen Torbogen, der Pforte zum Garten, steht Mutter El e nas kle i nes Mädchen, Carolina, und guckt. Aber bald merkt sie, dass es nicht die ist, auf die sie wartet, und entschwi n det mit ihrer Puppe im Arm.
Bei meiner Rückkehr finde ich Felicity vor Pippas Zimmer sitzend, den Rücken gegen die Wand gepresst. Schluc h zend wirft sie ihre Arme um mich. Unten im Flur schnü f felt Brigid , während sie einen Spiegel mit einem Tuch ve r hängt. Ann kommt aus Pippas Zimmer, mit roten Augen und laufender N a se.
»Pippa …« Sie bricht ab. Aber sie muss nicht zu Ende sprechen.
Ich weiß schon, dass Pippa tot ist.
Am Morgen von Pippas Begräbnis regnet es. Ein ka l ter Oktoberregen, der den Klumpen Erde in me i ner Hand in Schlamm verwandelt. Als ich am off e nen Grab stehe, rutscht der Matsch durch meine Fi n ger auf Pippas polierten Sarg hinunter, wo er mit e i nem leisen, dumpfen Geräusch auftrifft.
Den ganzen Vormittag war Spence eine gut geölte M a schine von Aktivität. Jeder tat
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