Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
auf den Weg zu bringen? Und wenn ja, was? In der Vergangenheit bin ich gefallen, wurde in jenen Tunnel hinunterg e zogen. Aber dieses Mal ist es anders. Wie soll ich anfangen? Statt nach den richtigen Worten zu s u chen, schließe ich die Augen und lasse die Worte mich finden.
»Ich will es.«
In den Ecken der Höhle beginnt es zu flüstern. Das Flü s tern s chwillt zu einem lauten Summen an. In der nächsten Sekunde gähnt unter mir ein Abgrund. Fel i city hält meine Hand fester. Pippa ringt keuchend nach Luft. Sie haben Angst. Ein Kribbeln läuft meine Arme entlang, verbindet mich mit den anderen. Ich könnte jetzt aufhören. Kartik gehorchen und das hier beenden. Aber ich muss wissen, was auf der anderen Seite ist, um jeden Preis. Das Summen verstummt und schlägt um in einen Schauder, der meinen Körper wie eine Melodie durchströmt, und als ich die A u gen öffne, ist da die strahlende Silhouette eines Tors aus Licht, es flimmert und winkt, als wäre es die ganze Zeit da und wartete nur darauf, dass ich es finde.
Anns Gesicht ist völlig verklärt. »Sagenhaft …«
»Seht ihr das … ? «, fragt Pippa staunend.
Felicity versucht, das Tor zu öffnen, aber ihre Hand fasst ins Leere. Das Tor ist wie eine Projektion in einer Laterna-magica-Schau. Keine von ihnen kann es öffnen.
»Gemma, versuch du es«, sagt Felicity.
Im weiß glühenden Licht des Tors erscheint meine Hand wie die eines anderen – die Hand eines Engels. In meinen Fingern fühlt sich der Knauf fest und warm an. Etwas tritt aus der Oberfläche des Tors hervor. Ein Umriss. Die Rä n der leuchten stärker und nun kann ich die vertrauten Ko n turen des Monda u ges sehen. Das Medaillon an meinem Hals glüht wie sein Spiegelbild am Tor, als begrüßten sie einander. Plötzlich lässt sich der Knauf in meiner Hand ganz leicht drehen.
»Du hast es geschafft«, sagt Ann.
»Ja, wie ihr seht, hab ich ’ s geschafft.« Ich lächle trotz meiner Angst.
Das Tor öffnet sich und wir betreten eine Welt, so stra h lend und in so leuchtenden Farben, dass ich von ihrem A n blick geblendet bin.
Als sich meine Augen an den Glanz gewöhnt haben, e r kenne ich Einzelheiten. Da gibt es Bäume, die an ihren Zweigen grüngoldene und korallenrote Blä t ter tragen. Der rötlichblaue Himmel spannt sich über einem in orangefa r bene Glut getauchten Horizont, wie ein Sonnenuntergang, der niemals verblasst. Winzige lavendelblaue Blüten schweben vorbei, von einem lauen Windhauch getragen, der schwach nach meiner Kindheit duftet –nach Lilien und Vaters Tabak und Curry in Saritas Küche. Das breite si l berne Band eines Flusses durchschneidet das Bild und trennt das taubenetzte Gras, auf dem wir stehen, von einem Sandstrand am anderen Ufer.
Pippa berührt leicht ein Blatt mit ihrem Finger. Es rollt sich von selbst ein und verwandelt sich in einen Schmette r ling, der himmelwärts flattert. »Oh, es ist alles so schön.«
»Unbeschreiblich«, sagt Ann.
Blüten regnen herab, schmelzen in unserem Haar wie d i cke Schneeflocken.
Felicity wirbelt wie ein Kreisel herum, überwältigt von Glück. »Es ist wirklich! Das alles ist wirklich!« Sie bleibt stehen. »Riechst du das?«
»Ja«, sage ich und atme das tröstliche Aroma von Kin d heitsgerüchen tief ein.
»Rosinenbrötchen. Die gab es jeden Sonntag. Und Se e luft. Ich roch sie immer an Vaters Uniform, wenn er von einer Reise nach Hause kam. Als er noch nach Hause kam.« Felicitys Augen schwimmen in Tr ä nen.
Pippa schüttelt den Kopf. »Nein, du irrst dich. Es duftet nach Flieder. Wie die Zweige aus dem Garten, die ich in einer Vase in meinem Zimmer hatte.«
Der intensive Geruch von Rosenwasser liegt in der Luft.
»Was ist das?«, fragt Pippa.
Eine einfache Melodie dringt an mein Ohr. Eins der Schlummerlieder meiner Mutter. Es kommt aus einem Tal zu uns herauf. Ich kann nur einen silbe r nen Torbogen und einen Weg erkennen, der in einen üppigen Garten führt.
»He, warte, wo willst du denn hin?«, ruft mir Pi p pa nach.
»Ich bin gleich wieder zurück«, sage ich und gehe i m mer schneller, laufe, renne Mutters Stimme entg e gen. Durch den silbernen Bogen lande ich inmitten hoher, von Bäumen durchbrochener Hecken. Und dort, genau in der Mitte, sitzt sie in ihrem blauen Kleid, ruhig und lächelnd. Und wartet auf mich.
Meine Stimme schwankt. »Mutter?«
Sie streckt mir ihre Arme entgegen und ich furc h te, dass ich am Ende wieder einem Traum nachlaufen werde. Aber diesmal sind es wirklich ihre Arme,
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