Der Geheimnistraeger
Gesichter waren in den letzten Tagen recht zahlreich gewesen. Einige hatten nur eine halbe Stunde lang mit zugehört, während sie andere Beamte befragt hatten. Sie hatte das Gefühl, dass sie einfach nur neugierig gewesen waren. Sie war ein exotisches Tier in einem Käfig, das alle sehen wollten.
Der unbekannte Mann war groß und blond und etwa so alt wie sie selbst. Lydia fand, dass er intelligent aussah. Sie hoffte, dass sie endlich jemanden von ihrer Geschichte überzeugen konnte. Dass ihr endlich jemand glauben würde.
»Lydia«, sagte der Mann. »Darf ich Sie Lydia nennen.«
»Ja«, antwortete Lydia.
»Ich heiße Christian. Ich habe die Protokolle der Verhöre mit Ihnen gelesen. Man hat Ihnen wiederholte Male die gleichen Fragen gestellt, und Sie haben diese jedes Mal ungefähr gleich beantwortet. Ich habe nicht vor, Ihnen diese Fragen noch einmal zu stellen, sondern wüsste nur gerne, ob Sie an Ihren Aussagen etwas ändern oder etwas hinzufügen möchten.«
»Nein«, sagte Lydia.
»Gut«, meinte Christian. »Somit wäre das geklärt. Jetzt würde
ich gerne über etwas anderes sprechen. Sie sind Abchasierin. Welche Nationalität hatten Ihre Eltern?«
»Meine Mutter ist Georgierin, und mein Vater war Abchasier. Er ist vor fast zehn Jahren gestorben.«
»Und wie sieht es mit Ihren Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits aus?«
»Die Eltern meiner Mutter waren Georgier. Mein Großvater väterlicherseits war Abchasier, und meine Großmutter väterlicherseits entstammte den Krimtataren. Sie hatten sich im Gulag kennengelernt.«
»Ich verstehe«, sagte Christian. »Wie hießen Ihre Großeltern väterlicherseits?«
»Mit Vornamen?«
»Ja.«
»Mein Großvater hieß Vassilij, meine Großmutter Olga.«
»Und wie heißen Sie außer Lydia noch?«
»Ich heiße Lydia Amira Tamaradze.«
»Ihre Großmutter war Krimtatarin, sagen Sie. Sind Sie je auf der Krim gewesen?«
»Nein, nie.«
»Kennen Sie Leute, die von dort kommen?«
»Niemanden außer meiner Großmutter. Aber sie lebt nicht mehr.«
Christian wartete einen Augenblick, bevor er die nächste Frage stellte.
»Wer ist Farida?«
»Ich kenne niemanden mit diesem Namen«, antwortete Lydia, ohne die Miene zu verziehen.
Die Fragen kreisten weiter um Lydias Teilnahme am Kampf der Separatisten in Abchasien. Wer ihre Kommandanten gewesen waren? Wo sie gekämpft hatten? Mit was für Nationalisten aus anderen Ländern sie Kontakt gehabt hatte? Das Verhör
wurde noch ungefähr zwei Stunden fortgesetzt, ohne dass Christian direkt nach Paolo Roccas schwer zu deutender Mitteilung auf der CD gefragt hätte. Schließlich erhob er sich und ließ Lydia im Zimmer zurück. Sie blieb genauso unbeweglich auf dem Stuhl sitzen wie während des gesamten Verhörs.
Im Büro von Reichspolizeichef Thord Henning versammelten sich Skov, Terfig, Møller und etliche von den Beamten, die Lydia Tamaradze verhört hatten.
»Wir kommen mit ihr nicht weiter«, sagte Henning, als Christian das Büro betrat. »Entweder weiß sie nichts, oder sie ist die abgebrühteste Lügnerin, die mir je untergekommen ist.«
»Sie ist schwierig«, sagte Christian. »Ich habe nach einer Öffnung, irgendeiner Stelle, wo ich ihren Panzer hätte durchbrechen können, gesucht. Ich hoffte, dass ihre Großmutter, die Krimtatarin, so ein schwacher Punkt sein würde. Aber sie hat sich völlig verschlossen. Auf den Namen Farida hat sie überhaupt nicht reagiert.«
»Sie macht eigentlich einen recht glaubwürdigen Eindruck«, meinte Skov. »Man findet keine Unstimmigkeiten.«
»Wir wissen viel zu wenig, um ihre Angaben überprüfen zu können«, wandte Terfig ein.
Thord Henning schüttelte den Kopf.
»Im Augenblick suchen über hundert meiner Leute nach Sprengstoff«, sagte er. »Gleichzeitig müssen wir eine Panik vermeiden. Wir können diese Informationen nicht veröffentlichen. Aber morgen müssen wir die Brücke wieder schließen. Die Reaktionen werden nicht gnädig ausfallen. Es ist wichtig, eine gute Erklärung dafür zu finden.«
Er schaute auf die Uhr. »Die ganze Sache entgleist vollkommen«, meinte er. »Und ich bin zum Ministerpräsidenten bestellt. Gebt mir etwas. Eine neue Idee!«
Im Zimmer wurde es still. Thord Henning wartete, aber niemand ergriff das Wort. Er erhob sich und nahm seine Papiere vom Schreibtisch.
»Henning«, sagte Møller. »Ich habe einen Vorschlag.«
»Ja?«, erwiderte der Reichspolizeichef und sah ihn an.
»Paulsen soll sie vernehmen.«
Alle im Raum
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