Der Geheimnistraeger
öffnete es.
Møller verfolgte den Vorgang mit großen Augen. Das Ganze ging so schnell, dass er kaum reagieren konnte. Es kam ihm vollkommen unwirklich vor.
»Sie haben den Schlüssel also gefunden?«, sagte der Schuster.
»Ja«, sagte Møller. »Ich habe den Schlüssel gefunden. Aber woher wissen Sie das?«
»Als Sie den Koffer abgegeben haben, haben Sie gesagt, Sie hätten den Schlüssel verloren und bräuchten einen neuen. Ich habe versprochen, einen zu besorgen, aber dann sind Sie nicht wiedergekommen. Erst heute.«
»Das war ich nicht, das war mein Freund Paolo«, sagte Møl-ler. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Achtzig Kronen.«
Møller zahlte, nahm den Koffer und ging zu seinem Auto. Er wusste, dass er eigentlich warten musste, konnte seine Neugier jedoch nicht bezwingen und öffnete die Tasche. Einige Kleider,
das war alles. Enttäuschung überkam ihn. Aber es gab noch zwei Innenfächer. Er schob die Hand in das eine und zog einen Umschlag heraus. Er öffnete ihn vorsichtig und betrachtete den Inhalt, ohne ihn herauszunehmen: eine CD.
Møller rief seine Kollegen an und teilte mit, dass sie die Suche abbrechen könnten. Dann ließ er seinen Wagen an und fuhr Richtung Kopenhagen. Er war seltsam zufrieden. Er dachte an Roccos Mörder: Jetzt kommen deine schrecklichen Geheimnisse ans Tageslicht!
66. Kapitel
Nacheinander wurden die Leichen der dreiunddreißig Geiseln aus dem Hotel Kong Frederik obduziert. Etwa die Hälfte waren mit Waffen der Terroristen erschossen worden. Die andere Hälfte war der angreifenden Kommandotruppe zum Opfer gefallen oder war von Handgranaten getötet worden. Diese Informationen wurden der Presse zugespielt und lösten Entsetzen aus. Eine weitere Welle der Kritik an Regierung, Polizei und Militär folgte. Die Behörden waren weder in der Lage gewesen, die Geiseln zu befreien, noch hatten sie eine anonyme paramilitärische Organisation daran hindern können, auf dänischem Boden Mord und Totschlag zu verüben. Die Worte des Ministerpräsidenten, die Kommandotruppe habe dazu beigetragen, die Terroristen zu überwältigen, wurden jetzt gegen ihn verwendet. Die Obduktionen ergaben nach Deutung der Medien, dass den Söldnern jeglicher Respekt vor dem Leben der Geiseln gefehlt habe.
Weniger Aufsehen erweckte die Information, dass die meisten Terroristen von der Kommandotruppe erschossen oder in die Luft gesprengt worden seien. Niemand hatte etwas anderes erwartet. Die Polizei war mehr an den Ausnahmen interessiert. Zwei Terroristen, die auf einem Bett liegend aufgefunden worden waren, waren mit Lydia Tamaradzes Waffen
erschossen worden. Das stimmte mit ihrem eigenen Bericht überein. Sie hatte sie Samstagnacht vor dem Hotel getötet. Diese Angabe wurde auch durch die Sicherung von Blutspuren auf dem Kai bestätigt. Einem dritten Terroristen war die Kehle durchgeschnitten worden, dem Mann im Treppenhaus. Sein Körper war fast vollkommen ausgeblutet. Die Obduktionsergebnisse aus der Gerichtsmedizin lieferten eine recht plausible Erklärung dafür, warum die drei örtlichen Politiker der Dansk Folkeparti im Verlauf des Sonntags ermordet worden waren. Das war die Rache für die drei »Märtyrer« der Besatzer gewesen.
Vincent Paulsen wurde gehörig zugesetzt, damit er sein Wissen preisgab. Zwei Beamte aus Roskilde verhörten ihn, Männer, die er nicht kannte. Sie verhielten sich förmlich, korrekt und ohne Kollegialität. Sie versuchten nicht, ihn in Widersprüche zu verwickeln, vermutlich sahen sie ein, dass er ihre Tricks leicht durchschauen würde. Stattdessen stellten sie offensive Fragen und akzeptierten keine vagen Antworten. Sie verlangten exakte Details.
Die Leiter des Verhörs kamen mit Paulsen jedoch nicht weiter. Er hielt an seiner Geschichte fest. Für ihn war Lydia Tamaradze nur eine Bekannte seiner Schwester Karoline. Lydia hatte ihn in ihren privaten Krieg gegen die Terroristen nicht eingeweiht. In ihrem Gespräch am ersten Tag der Besetzung war es nur um ihre Sorge über die Ereignisse in der Stadt gegangen.
Paulsen setzte alles auf eine Karte: Er glaubte nicht, dass Lydia ihn ans Messer liefern würde, indem sie den wahren Wortlaut ihres Gesprächs preisgab. Aber selbst wenn, dann stünde ihr Wort gegen seines. Er hatte nicht die Absicht, klein beizugeben.
Anschließend wurden Paulsens Antworten in einem kleineren Kreis im Präsidium besprochen. Unter den Kollegen gab es zwei Lager: jene, die ihm glaubten, und jene, die seine Aussagen
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