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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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soweit er wusste, keinen anderen Mann hatte.
    Seiner Mutter war Paolo langsam entglitten wie ein Boot, das den Hafen verlässt. Er kannte sie nicht mehr, die politischen Gegensätze waren nicht nur unauflöslich, sondern ließen sich nicht einmal diskutieren. Gelegentlich besuchte er sie aus einem Pflichtgefühl heraus und aß ihre Pasta, ohne sich ihre endlosen politischen Tiraden anzuhören. Zutiefst beklemmt verließ er sie.
    Jetzt, wo Paolo seine ganze Familie verloren hatte und man ihm verweigerte, sich mit seinem Universitätsstudium nützlich zu machen, waren die Bewegung und Francesca alles. Francesca und die Bewegung, die Bewegung und Francesca.

8. Kapitel
    Im Frühjahr und Sommer fünf Jahre nach Ginas Tod brachen überall große Diskussionen aus. Es ging um die Weltlage und darum, wie sie sich gerade verschob. Das 20. Jahrhundert neigte sich seinem Ende zu, und nichts war mehr, wie es gewesen war. Die europäischen Kriege waren bald vorüber, gute achtzig Jahre, nachdem der erste Schuss in Sarajewo gefallen war, eine fast kontinuierliche Aneinanderreihung von Ereignissen, während der die Kriegsgeschehnisse zwischen hitzigen Phasen und Eiseskälte hin- und hergependelt waren. Alle wussten, dass nur noch der Kosovo fehlte, um den Kreis zu schließen. Ein lokaler Streit, mehr nicht, die letzte Schlägerei, ehe die Jungs unwiderruflich genötigt waren, erwachsen zu werden. Die Welt, die alle kannten, war untergegangen, und etwas Neues entstand.
    Aus Zufall oder vielleicht auch nicht befreiten die Politiker der siegreichen Demokratien den Kapitalismus gleichzeitig von seinen letzten Fesseln. Paolo und Francesca beobachteten mit Entsetzen, wie der Neoliberalismus das nach dem existierenden Sozialismus entstandene Vakuum füllte. Die neue Computertechnik machte es möglich: Das Kapital konnte sich bewegen, konnte bewegt werden, und zwar überall auf dem Erdball, an jeden Ort, selbst in den kleinsten Winkel. Seine Kraft war beachtlich, niemand blieb davon unberührt. Die Macht der Kapitalbesitzer
war grenzenlos geworden. Das war der innerste Kern der Globalisierung.
    Die Welt würde umgestaltet werden, und Paolo und Francesca wollten ein Wörtchen dabei mitreden. Für sie und für die Bewegung war der autonome Sozialismus die einzige Alternative. Er stellte nicht nur den Antipoden des Kapitalismus, sondern auch des Realsozialismus dar. Wie er visualisiert wurde, war nicht entscheidend, die Autonomia war nichts Festes, nichts Fixiertes. Sie war ein Experiment, etwas, was von Menschen in direkter Handlung geformt wurde. Aber auch wenn das Ziel offen war, entstand es doch nicht aus dem Nichts. Es musste geschaffen werden. Jemand musste die Führung übernehmen.
    Wie also sah die Rolle der Avantgarde in der Revolution aus? Wie weit voraus sollte sie sein? Welche Form nahm das politische Bewusstsein an? Welche Taktik war angemessen? Wie sollte man zu Gewaltanwendung stehen?
    Paolo und Francesca waren bei diesen Diskussionen nicht führend, aber sie verfolgten sie genau. Francesca leitete außerdem Debatten darüber im Radio Autonomia Bologna.
    Die Vorstellung, dass die Aktivisten die Vortruppen der Revolution bildeten, war unerschütterlich, die große Frage betraf also die Gewalt. Die Stadtguerillaexperimente der Brigate Rosse und der Roten-Armee-Fraktion schreckten ab. Ihre Taktik war nicht nur missglückt, sie hatte auch eine unüberbrückbare Distanz zu den Massen geschaffen, die eigentlich geführt werden sollten. Die Forderung extremer Geheimhaltung bei allem, was die Aktivisten unternahmen, um überleben zu können, führte zu einer autoritären und damit patriarchalen Führung. Das verstieß in jeder Hinsicht gegen die Ideale der Autonomia.
    An einem Ende des Spektrums befanden sich die Verfechter der Gewaltfreiheit auch in Verteidigungssituationen. Am anderen Ende standen die Befürworter der Gewalttaktik, für die diese
Frage relativ war. Missglückte Gewalt war schlecht, geglückte war gut. Die Morde an den Vertretern des Staates der Brigate Rosse galten als Versagen, da sie nicht zum erwünschten Resultat führten. Misshandlungen von Faschisten waren gern gesehen, da sie als Machtdemonstrationen betrachtet wurden. Aus demselben Grunde sollte man Polizisten, die Demonstranten mit Schlagstöcken malträtierten, mit Steinen und Molotowcocktails begegnen. Und einen Schritt weiter: Sabotage und die Zerstörung der technischen Infrastruktur des Feindes waren geeignete Kampfmethoden.
    Trotz Uneinigkeit zerfiel

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