Der Geheimnistraeger
die Bewegung nicht. Alle waren Kameraden, die Aktivisten, die sich für die Rechte der Tiere einsetzten, die Globalisierungsgegner, die Rätekommunisten und die Anarchisten. Die Uneinigkeit trennte sie nicht. Gewalt stellte einen wesentlichen Bestandteil ihrer gemeinsamen Erfahrung dar. Sie durfte nach eigenem Gutdünken frei angewendet werden. In der Praxis siegten die Relativierenden. Gewalt wurde auf einer offenen Skala platziert und zur individuellen Angelegenheit. Gewalt war keine moralische Frage.
Paolo hatte anfänglich den Gewaltverzicht propagiert, während Francesca mehr zu dem Recht tendierte, gegen die Faschisten und die übermäßige Gewalt des Staates zurückzuschlagen. Während der Diskussionen ließen sie sich jedoch immer mehr davon überzeugen, dass sich die Befreiung nur erreichen ließ, wenn die Avantgarde zeigte, was nötig war, und zwar auch in Form von Gewalttaten. Es ging darum, etwas zu wagen. Straßenschlachten waren schließlich nicht nur eine Methode, ein Ziel zu erreichen, sie waren ein Teil dieses Zieles. Einige Momente lang gehörte die Straße ihnen, sie war von den Machtstrukturen des Staates befreit. Eine eingeschlagene Schaufensterscheibe bei McDonald’s bedeutete eine kurzzeitige Befreiung vom Großkapital. Paolo und Francesca ließen sich
vom politischen Charakter der Krawalle überzeugen. Ein Teil der Zukunft wurde auf der Straße bestimmt.
Eines Abends kam Francesca zu Paolo nach Hause. Es war Ende Mai 1997. Sie küsste ihn auf beide Wangen und nahm auf seinem Bett Platz. Er setzte sich neben sie.
»Du siehst blass aus«, sagte er.
»Schlechte Werte«, erwiderte sie und wischte weitere Fragen mit einer Handbewegung weg. »Was hast du heute gemacht?«
»Ich habe in der Bäckerei gearbeitet«, antwortete er. »Ich bin ziemlich müde.«
Er strich ihr übers Haar. Sie trug es inzwischen kurz. »Es ist so lange her«, sagte er.
Sie legte sich aufs Bett und drückte den Rücken durch. Sie schob ihre Daumen in den Bund und zog sich Hose und Slip gleichzeitig aus. Paolo befreite sein Glied aus seiner Hose und legte sich neben sie. Als er in sie eindrang, wusste er, dass er sich immer an diesen Augenblick erinnern würde.
Später am Abend machten sie Pläne, wie sie nach Amsterdam gelangen könnten. Die Proteste beim kommenden EU-Gipfeltreffen sollten sich gegen Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung richten. Für Paolo und Francesca ging es um mehr, es ging darum, den Kampf anzuheizen. Für Paolo, den Lumpenintellektuellen, handelten die Parolen auch von ihm selbst.
9. Kapitel
Im Juni traten sie mit ganz kleinem Gepäck ihre Reise an. Francesca nahm ihren alten Rucksack, den sie bereits besessen hatte, als sie Paolo kennenlernte. Ein paar Kleider zum Wechseln und Toilettenartikel, das war alles. Paolo hatte einen eigenen Rucksack mit gleichem Inhalt und einem neuen Buch. Dieses Mal hatten sie sich entschlossen, den Zug zu nehmen und Fahrkarten zu kaufen. Andere Demonstranten wollten zusammen in billigen Bussen fahren, aber Paolo und Francesca fuhren lieber allein. Das Zusammensein mit den Kameraden konnte manchmal anstrengend sein.
Sie fuhren am Hauptbahnhof von Bologna ab. An der Fassade hing eine Gedenktafel mit den Namen der 85 Menschen, die von der Bombe siebzehn Jahre zuvor getötet worden waren. Seit jenem Tag verband Paolo diesen Bahnhof mit nahe bevorstehendem Tod, und er hatte lange versucht, ihn zu meiden.
In Mailand stiegen sie in den Nachtzug um, fanden ihre Sitzplätze und machten es sich für die lange Reise bequem. Sie hatten Plätze nebeneinander. Als sie durch den Gotthard-Tunnel fuhren, schlief Francesca mit dem Kopf an Paolos Schulter. Er war wach, und die Lichter des Tunnels wischten in rhythmischem Blinken am Zugfenster vorbei. Als sie den Tunnel auf der anderen Seite verließen, begann es zu dämmern.
Zürich, Basel, Karlsruhe, Mannheim, Bonn, Köln, Utrecht, die Städte Europas im Zwielicht der Sommernacht. Am Morgen stiegen sie in Amsterdam aus. Paolo war übernächtigt, Francesca noch etwas schläfrig. Sie hatten eine Adresse bekommen, ein Haus in der Nähe des Zentrums, das Vrankryk hieß und offenbar befreit war. Sie hofften, dass sie sich dort etwas ausruhen konnten. Am nächsten Tag würden die Demonstrationen beginnen.
Paolo und Francesca marschierten unter Spruchbändern in den Farben der Anarchie. Um sie herum waren meist junge Leute aus ganz Europa. Die Menge ließ sich kaum überblicken, Zehntausende von Demonstranten
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