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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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drängten sich in den Straßen zwischen den Häuserblocks. Die Stimmung war aufgeheizt von der widersprüchlichen Mischung aus Freude und Wut, Kampfeslust und Feierlaune.
    Noch in der friedlichen Phase der Proteste wurden die Demonstranten in ihren eigenen Reihen von Polizisten in Zivil angegriffen. Gefangenenwagen wurden herangefahren, und die Beamten schritten mit massiver Gewalt zur Tat. Jede Festnahme wurde von einer übermächtigen Anzahl von Beamten durchgeführt. Paolo wurde von drei Männern zu Boden gerissen, auf den Bauch gerollt. Dann fesselte man ihm mit einem Plastikband die Hände auf den Rücken. Die Schmerzen in den Schultern waren unerträglich, als sie ihn an den Oberarmen hochhoben und in den Gefangenenwagen stießen. Francesca zerrte am Arm eines Beamten, wurde aber von zwei herbeieilenden Bereitschaftspolizisten überwältigt. Nachdem sie Paolo eingeschlossen hatten, zog einer der Polizisten eine Augenbinde aus der Tasche und streifte sie Francesca über den Kopf.
    Zu Hunderten wurden die Demonstranten abgeführt. Auf einem Gefängnishof trennte man die Frauen von den Männern.
Paolo wurde in ein Untersuchungsgefängnis gesteckt und bezichtigt, einer illegalen Organisation anzugehören. »Und welcher? «, fragte er, ohne eine Antwort zu erhalten.
    Francesca wurde in ein Frauengefängnis überstellt. Ebenfalls mit der Bezichtung der Teilhabe an einer illegalen Organisation. Auch sie erhielt keine Antwort.
     
    Zwei Tage später, nachdem die EU-Toppolitiker nach Hause gefahren waren, wurden die Festgenommenen ohne Anklage freigelassen. Man setzte sie in Busse und schaffte sie aus Holland heraus. Paolo landete in einem Bus mit sechzig seiner Landsleute. Francesca war nicht unter ihnen. Vergeblich versuchte er herauszufinden, wo sie war. Niemand wusste es. Ein junges Mädchen in seinem Bus hatte eine Person, auf die Paolos Beschreibung von Francesca passte, am Tag ihrer Festnahme gesehen. Aber mehr wusste sie auch nicht.
    Die ersten Tage zu Hause in Bologna waren quälendes Warten. Paolo blieb in seiner Wohnung. Dorthin würde Francesca kommen, wenn sie zurückkehrte, der einzige Ort, an dem sie ihn mit Sicherheit antreffen konnte. Unablässig ging er zum Fenster und schaute nach draußen, in der Hoffnung, sie unten auf der Straße zu sehen. Da fiel sein Blick auf einen Gegenstand in der Fensternische. Ein silberner Ring. Francesca musste ihn in der letzten Nacht in seinem Zimmer ausgezogen haben. Er umklammerte ihn mit der Hand.
    Schließlich schienen ihn die Wände in seiner ohnmächtigen Einsamkeit zu erdrücken. Sie drohten ihn zu ersticken. Er floh auf die Straße und wanderte zwischen den Orten umher, an denen sich Francesca möglicherweise hätte aufhalten können, wenn alles so gewesen wäre wie immer. Er fragte alle, denen er begegnete. Niemand hatte sie gesehen.
    Widerwillig beschloss Paolo, ihre Eltern aufzusuchen. In den
fünf Jahren, die vergangen waren, seit er Francesca kennengelernt hatte, war er nie dort gewesen. Er hatte sie nie getroffen. Der Abstand zwischen seiner Wohnung und ihrem Haus betrug nur fünf Kilometer, aber sie lebten in einer anderen Welt. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie wussten, wer er war.
    Er stand vor der Tür einer großen Patriziervilla. Nach kurzem Zögern drückte er auf die Klingel. Eine ältere Frau, deren Kleidung darauf hindeutete, dass sie zu den Dienstboten gehörte, öffnete. Er nannte seinen Namen und fragte nach Francesca. Die Frau schüttelte den Kopf, es sei unmöglich, die junge Signorina zu treffen. Er verstand nicht. Warum? War sie zu Hause? Eine andere Frau erschien aus dem Inneren des Hauses. Paolo verstand sofort, wer sie war, ihr Aussehen ließ keine Zweifel zu: Sie war Francescas Mutter.
    Paolo nannte ein weiteres Mal seinen Namen. Die Frau nickte schweigend. Ihr Gesicht war ausdruckslos, es zeigte keinerlei Gefühle. Dann sah sie die Aufwartefrau an und nickte erneut. Sie drehte sich um, ging in das Zimmer zurück, aus dem sie gekommen war, und schloss die Tür lautlos hinter sich.
    »Wir haben gestern Nachricht über Francesca erhalten«, sagte die Zugehfrau. »Sie sagen, sie sei im Gefängnis ins Koma gefallen. Man habe sie nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus bringen können.« Die Frau schluchzte, ein heftiges Schluchzen. »Francesca hatte Epilepsie. Sie fiel um und schlug mit dem Kopf auf dem Fußboden auf. Warum haben sie sie ihre Medizin nicht nehmen lassen? Warum? Oder haben sie sie geschlagen? Unsere geliebte kleine

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