Der Geheimnistraeger
Francesca, unser Alles!«
Im Juni 1997 entfaltete sich in Bologna der Sommer mit voller Pracht. Die Vögel sangen, als die Polizeibehörde der Stadt die Mitteilung erhielt, Paolo sei in Amsterdam festgenommen worden und dann ohne weitere rechtliche Konsequenzen freigelassen
worden. Die Mitteilung wurde in Paolos Mappe bei der Sicherheitsabteilung gelegt, die bereits mehr als daumendick war. Sie würde noch weiter wachsen und immer dicker werden, neue Einträge würden sich zu den alten gesellen, aber von diesem Tag an sah keiner der Polizeibeamten in Bologna Paolo mehr mit eigenen Augen.
ESPEN
10. Kapitel
Magensaft spritzte auf den Fußboden. Da er mit Spinat, Knoblauch und halbverdauten Bratenstücken vermischt war, hätte der Gestank kaum unangenehmer sein können.
Espen Krogh wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er hatte schon oft einen Kater gehabt, öfter als er sich erinnern konnte oder wollte. Aber dieser hier verdiente einen Platz unter den Top Ten. Das Versprechen, nie mehr einen Tropfen anzurühren, würde er nicht abgeben, obwohl sein Körper vor Übelkeit und Elend zitterte und es ihm mit einer Dosis Selbstbetrug vielleicht etwas besser gegangen wäre.
Zwei Tage zuvor hatte sie ihn wieder verlassen. Simone. Zum dritten Mal, sie hatte geschworen, dass es dieses Mal endgültig war. Er solle sich zum Teufel scheren. Wie sehr er ihr auch beteuert hatte, dass er sie liebe – und das stimmte –, sie blieb unnachgiebig.
Er versuchte sich auf die Seite zu drehen, fiel aber stattdessen aus dem Bett. Der Fußboden war aus fleckigem, solidem Holz. Hart wie ein Schlag auf die Schnauze. Es war elf Uhr. Mittwoch, der Tag, an dem die Woche nicht wusste, ob sie gerade erst angefangen hatte oder schon bald wieder zu Ende gehen würde. Es gelang ihm, den Kopf zu schütteln, ohne dass sein Schädel zu dröhnen begann. Er erhob sich. Die Geruchssensationen
des Fußbodens mischten sich mit seinen Alkohol- und Tabakausdünstungen. Das Einzige, was nicht an ihm haftete, war der Duft eines weiblichen Geschlechts. Diese Gunst hatte sie ihm nicht gewährt, nicht einmal ein letztes Mal, diese verdammte Zicke.
Er schwankte auf die Badezimmertür zu. Es war höchste Zeit, zur Arbeit zu gehen. Die hatte er immerhin noch. Einstweilen jedenfalls.
»Verdammt, Espen, schau dich an!«
Stellan Wall fixierte Espen mit den Augen, und dieser machte nicht die geringsten Anstalten, dem Wunsch seines Chefs zu entsprechen.
»Nein, danke«, antwortete er, »auf ein weiteres schockierendes Erlebnis lege ich keinen Wert. Simone hat mir vorgestern den Laufpass gegeben. Außerdem besitze ich keinen Spiegel.«
»Witze sind hier unangebracht. So kannst du ganz einfach nicht weitermachen. Du erscheinst erst mittags. Du bist immer so spät dran, dass dir gar nicht auffällt, dass alle anderen schon um neun Uhr angefangen haben. Du weißt schon, die Leute, die arbeiten? Und die Klamotten? Hast du in denen geschlafen oder sie aus der Altkleidersammlung gezogen? Und das mit Simone, das tut mir wirklich verdammt leid, aber das ist auch keine Entschuldigung, um wie ein Loch zu saufen. Sie hat dich verlassen, weil du säufst, begreifst du das denn nicht? Warum musst du nur so verdammt viel trinken?«
»Ja, warum säuft man?«, murmelte Espen. »Vielleicht, weil das Systembolaget jetzt auch wieder am Samstag geöffnet ist? Oder ist die EU an allem schuld?«
»Das hier ist deine letzte Chance, Espen. Die letzte, hörst du? Und die gewähre ich dir auch nur, weil du so gut bist, wenn du nüchtern bist, und nur die Götter wissen, wann das zuletzt der
Fall war. Morgen gehst du zum Arzt und kümmerst dich um eine Entziehungskur. Nein, nicht morgen. Heute!«
Espen Krogh sah Stellan Wall an. Was für ein seltsamer Name. Wer hatte sich diese Kombination einfallen lassen. Er bekam immer Lust zu reimen, wenn er diesen Namen hörte.
»Ich bin kein Alkoholiker. Ich gebe allerdings zu, dass ich mir alle Mühe gebe, einer zu sein, aber ich kann aufhören, wann immer ich will.«
»Dann hör einfach jetzt auf.«
»Aber ich will nicht. Ich habe nichts Besseres zu tun.«
»Heute, Espen. Jetzt. Sonst wirst du gefeuert.«
»Ein Angestellter kann nicht einfach so gefeuert werden. Das verbieten die Gesetze, die Verträge mit der Gewerkschaft und die UNO-Resolution. Außerdem würde das gegen deine eigenen Prinzipien verstoßen, falls du welche hättest. Du kannst mich also nicht feuern.«
»Heute!«
11. Kapitel
Espen Krogh war normalerweise
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