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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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werdendes Heimatland verlassen zu können. Er selbst hatte nicht fahren wollen.
     
    In einem Bus fuhren sie und eine große Gruppe anderer Neuankömmlinge vom Ben-Gurion-Flugplatz nach Jerusalem. Die ersten Wochen verbrachten sie in einem Übergangslager am Stadtrand. Viele Formulare müssten ausgefüllt werden, sagte der Vater. Der Junge hasste das Übergangslager. Es war Frühling, und er wusste, dass seine Freunde zu Hause in Swerdlowsk, an den Namen Jekaterinburg hatte er sich seit dem Namenswechsel zwei Jahre zuvor nicht gewöhnen können, auf der Wiese vor der Schule Fußball spielten.
    Dann kam ein Mann zu Besuch. Er gehörte einer Organisation an, die ihre Alija, ihren Aufstieg, die Rückkehr aus der Diaspora nach Israel, organisiert hatte. Der Besucher teilte mit, dass sie das Übergangslager jetzt verlassen könnten. Die Familie sollte bei einer Frau untergebracht werden, deren Mann im Libanon gefallen war und die deswegen eine viel zu große Wohnung hatte. Sie würden zwei ihrer Zimmer mieten. Die Organisation bezahlte die ersten drei Monatsmieten. Innerhalb dieser Zeit würde es dem Vater sicher gelingen, eine Arbeit zu finden.
    »Die Wohnung liegt genau außerhalb von Me’a She’arim, dem Viertel der Orthodoxen«, sagte der Mann. »Ihre Vermieterin ist nicht orthodox, und Sie werden mit ihr sicher zurechtkommen. Aber dort wohnen auch arme Menschen, und du, mein Junge, es ist auch nicht weit bis zu dem Araberviertel Jerusalems. Die Araber werfen seit 1987 Steine und Bomben auf
uns. Das geht jetzt schon seit fünf Jahren so. Geh nicht dorthin, du könntest getötet werden.«
    Der Junge sah seine Mutter an, und diese nahm ihn in den Arm.
    »Wie heißt du?«, fragte der Mann.
    Der Junge antwortete mit einem einzigen Wort, seinem russischen Vornamen.
    »Ein Namenswechsel ist besser«, sagte der Mann. »Du bekommst einen hebräischen Vornamen, das vereinfacht die Dinge. Du solltest dich Tal nennen. Gefällt dir dieser Name?«
    »Der passt gut«, sagte der Vater, als der Sohn nicht antwortete. »Tal«, sagte er und nickte dem Jungen anerkennend zu.
     
    Ihre Vermieterin schien etwas jünger zu sein als Tals Mutter, und Tal fragte sich, warum sie nicht um ihren Mann trauerte, der im Krieg gefallen war. Vielleicht ist das ja schon lange her, dachte er.
    Die Vermieterin trug weite Kleider und hatte breite Schenkel. Ihr Mund war groß, und sie lachte viel. Aber die Wohnung war klein, und Tal ging auf die Straße, sobald er aufgestanden war. Dort wanderte er herum und staunte darüber, dass die Menschen Waffen trugen. Überall Waffen. An den Straßenecken standen Mädchen, die nicht viel älter waren als er, in grüner Kleidung und mit einem Karabiner über der Schulter. Die Mädchen unterhielten sich die meiste Zeit miteinander. Sie aßen Chips, Nüsse und Süßigkeiten und tranken Limonade und zwar andauernd. Er wagte nicht, sie anzusprechen, aber oft stand er da und betrachtete sie. Sie standen oben auf dem Hügel am Anfang der Jaffastraße vor der alten Stadtmauer. Hinter die Mauer, in die Altstadt, wagte er sich noch nicht, da er Angst hatte, sich in den arabischen Gassen zu verirren.
    Sein Vater schickte ihn zusammen mit anderen russischen
Jungen in eine Sprachschule. Hebräisch war schwer, aber Tal war fest entschlossen, die Sprache zu lernen. Er hatte eingesehen, dass er gezwungen sein würde, in diesem Land zu leben. Außerdem wollte er mit den grüngekleideten Mädchen sprechen können. Bereits nach zwei Monaten konnte er in den Läden einkaufen und einfache Sätze zu ihrer Vermieterin, die sich gerne Zeit für ihn nahm, sagen.
    An einem Nachmittag, als seine Eltern unterwegs waren, kam die Vermieterin in das Zimmer des Jungen. Tal fand, dass sie sich anders benahm als sonst, sie lachte plötzlich und fragte ihn Dinge, die sie bereits wusste. Dann legte sie den Kopf zur Seite und lachte erneut. Er wurde verlegen und wusste nicht, was er sagen sollte. Die Vermieterin trat ein paar Schritte auf ihn zu und schob dann ihre Hand in seine Hose.
    »Ich will mich nur vergewissern, dass du ein echter Jude bist«, sagte sie und lachte.
    Er stand mit dem Rücken an der Wand und ließ es zu, dass ihre Hand etwas zu lange dort verweilte. Sie spürte noch seine Erregung, bevor er sich losmachte.
    Er rannte aus der Wohnung. Hinter sich hörte er ihr Lachen.
    Tal rannte, bis er die grüngekleideten Mädchen sah. Er blieb stehen und sah sie an. Sein Blick war getrübt, und er keuchte. Er stand lange dort, dann begann er

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