Der Geheimnistraeger
Kennen Sie Helsingør?« Das Jammern hörte nicht auf, und obwohl es sehr leise war, gellte es Espen in den Ohren. Er keuchte, die Beine gaben fast unter ihm nach. Er versuchte freundlich, aber doch wie eine Respektsperson zu klingen, wie eine Person, die das Recht hatte, Beschlüsse zu fassen, wie jemand, der auch noch die aussichtslosesten Wünsche erfüllen konnte.
»Er antwortete nicht«, flüsterte Espen in sein Handy. »Mach weiter«, antwortete Hörnfeldt. »Wir müssen Geduld haben.«
Das Jammern veränderte sich im Ton und klang nun noch gequälter. Espen fragte sich, was da drin wohl los war. »Ich geh jetzt rein«, sagte er ins Telefon. »Ich muss da rein.«
»Nein«, hörte er Hörnfeldt sagen, aber Espen hatte bereits seinen Entschluss gefasst und war schon fast an der Tür angelangt. Er ging geradewegs hinein, auf alles gefasst. Sein Gewaltinstinkt
hatte, ausgelöst von der leidenden Frauenstimme, die Oberhand gewonnen. Seine Vernunft war ausgeschaltet.
Als Erstes sah er die beiden Frauen, die mit Klebeband an ihre Stühle gefesselt waren. Beide waren mit Halstüchern geknebelt worden. Hinter einer der beiden Frauen stand der Täter mit wildem Blick. Trotz seines trunkenen Zustands begriff Espen, dass er Argumenten nicht zugänglich war. Zwischen ihm und dem Mann lagen zwei Meter. Espen warf sich nach vorn.
Hörnfeldt fasste sich ans Ohr, als der Schuss knallte. »Verdammt«, zischte er. »Hinein!«, rief er.
Zwölf Sekunden später war der Geiselnehmer überwältigt. Espen wurde von zwei Polizisten weggetragen. Einer Frau wurde der Knebel abgenommen. Sie schluchzte auf. Die andere Frau rührte sich nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf.
Espen saß mit hängendem Kopf auf einem Stuhl. »Wir sind leider dazu gezwungen«, sagte Hörnfeldt. Eine weißgekleidete Frau betrat das Zimmer und stieß Espen eine Nadel in den Arm.
Zwei Tage später suchte Stellan Wall Espen in seiner Wohnung auf.
»2,8 Promille«, sagte er. »Du hast nicht nur den Auftrag angenommen, du hast auch noch versucht, den Geiselnehmer zu überwältigen. Es gibt Leute, die so etwas besser können, insbesondere in nüchternem Zustand.«
Wall stand in der Diele. Espen bat ihn nicht, Platz zu nehmen. »Du bekommst zwei Monatslöhne«, sagte Wall. »Und das ist noch verdammt nett von mir.« Er drehte sich um, um zu gehen. »Sie hatte offenbar eine kleine Tochter«, sagte er noch, ehe er die Tür hinter sich schloss.
Espen trat ans Fenster. Es war der erste Frühlingstag des Jahres,
des dritten Jahres des neuen Jahrhunderts im neuen Jahrtausend. Wie er da am Fenster stand, kam ihm die Zukunft unendlich vor. Für ewige Zeiten würde die Schuld in seiner Brust wie ein schwarzes Loch in ihm weiterwachsen. Bodenlos, unmöglich auszufüllen. Nicht einmal aller Schnaps der Welt würde dafür ausreichen.
TAL
13. Kapitel
»Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, dass es ein ewiger Bund sei, so dass ich dein und deiner Nachkommen Gott bin. Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein.«
Der Mann kniete. Er beugte sich vor und küsste die Erde. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich bin heimgekehrt«, sagte er, als könne das ganze Volk ihn hören. Immer wieder gingen ihm die Worte des achten Verses aus dem 17. Kapitel des Ersten Buch Mose durch den Kopf. »Ich will dir das ganze Land Kanaan zu ewigem Besitz geben …«
Hinter ihm stand seine Frau und neben dieser sein Sohn. Der Junge war gerade vierzehn geworden, und er schämte sich dafür, dass sich sein Vater vor allen, die aus der Tupolewmaschine aus Moskau stiegen, auf die Erde legte. Außerdem lag er allen im Weg, die die Treppe herunterkamen. Der Junge sah seine Mutter ängstlich an und hoffte, dass sie sich nicht ebenfalls auf diese Art lächerlich machen würde. Aber sie machte nicht die geringsten Anstalten, sich hinzuknien. Ganz im Gegenteil, es schien ihr ebenfalls peinlich zu sein.
Aber schließlich stammte sie auch nicht aus dem Geschlecht
Abrahams, und Abrahams Gott war nicht ihr Gott. Insofern war Kanaan eigentlich nicht ihr Land. Sie hatte ihre Gründe. Der Junge hatte den Diskussionen seiner Eltern zu Hause gelauscht und wusste, dass seine Mutter glaubte, dass es ihnen in Israel besser gehen würde. Das hatte sie gesagt. Sie war froh, ihr auseinanderfallendes und immer ärmer
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