Der Geheimnistraeger
eine lange, einsame Wanderung durch die Straßen. Sein Körper war wieder zur Ruhe gekommen. Er begann über die Worte der Vermieterin nachzudenken. Er spürte, wie sie sich in ihm festsetzten. Bist du ein echter Jude?
14. Kapitel
Ein Jahr später erzählte sein Vater, dass sie nach Ma’ale Adummim umziehen würden. Er hatte dort eine Arbeit in einem Restaurant gefunden und seine Mutter ebenfalls. Tal fragte, wo Ma’ale Adummim liege. »In Judäa«, antwortete der Vater. Daraufhin wollte Tal wissen, wo Judäa liege. »Das ist unsere biblische Heimat«, erwiderte der Vater. »Die Araber nennen Judäa und Samaria West Bank oder Palästina und behaupten, es gehöre ihnen, aber das ist nicht wahr. Wir wohnen jetzt dort. Wir haben Judäa aus einer menschenleeren Wüste erschaffen und aus Ma’ale Adummim eine blühende Stadt gemacht.« Ma’ale Adummim, der rote Berg .
Tal hatte davon gehört. Eine Siedlung. Sein Vater wollte ihn an einen Ort bringen, an dem er vor den Kugeln der Araber den Kopf einziehen musste. Zwar hieß es, dass es Frieden geben sollte, der Aufruhr war zu Ende und ein Vertrag war in Oslo geschlossen worden. Aber der Ausgang dieser Sache war äußerst ungewiss. Tal wollte in Jerusalem bleiben, Swerdlowsk geriet langsam in Vergessenheit. Hier gab es interessantere Dinge zu tun als draußen in einem Vorort auf einem Berggipfel. Er hatte in der Schule einen Freund gefunden, einen gleichaltrigen russischen Jungen, der genauso einsam gewesen war wie er selbst. Jetzt würde er weiterziehen müssen.
Einen Monat später bezogen sie eine Dreizimmerwohnung in der Derekh Kedem gegenüber von einem Großmarkt im Zentrum von Ma’ale Adummim. Tal bekam ein eigenes Zimmer. Immerhin etwas! Die Stadt war nichts anderes als ein aus den Fugen geratener Vorort von Jerusalem und so deprimierend, wie er befürchtet hatte. Sein Vater sprach von der schönen Aussicht. Als ob die irgendjemanden interessiert hätte!
Es dauerte eine Weile, bis er neue Freunde fand, aber schließlich lernte er Aron kennen, einen Amerikaner, der mit seinen Eltern nur ein halbes Jahr zuvor aus Brooklyn gekommen war. Tal konnte nur wenig Englisch, und Arons Hebräisch war schlecht. Tal beherrschte es inzwischen gut. Sie einigten sich darauf, sich gegenseitig zu unterrichten. Arons Eltern waren dankbar, dass ihr Sohn Hilfe beim Hebräischlernen bekam, sie selbst schlugen sich auf Englisch oder Jiddisch durch.
Die beiden jungen Männer verband ein großes Interesse: Mädchen. In ihren Diskussionen ging es vornehmlich darum, wie man sich diesen begehrenswerten Wesen nähern konnte. Sie waren sich einig, dass Geld dabei sehr nützlich sein würde. Tal schlug vor, dieses durch Einbrüche zu besorgen. Geschäfte nach Feierabend seien am ungefährlichsten. Sie wollten nur Bargeld stehlen, keine Gegenstände, die sie anschließend verkaufen mussten. Aron vermutete, dass die Ladeninhaber die Tageskasse abends mit nach Hause nahmen. Er schlug vor, mitten am Tag zuzuschlagen. Sie würden zusammenarbeiten: Er würde den Verkäufer in eine Ecke des Ladens locken, und Tal würde die Scheine zusammenraffen.
»Aber nicht alle, damit sie es nicht sofort merken«, sagte er.
»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte Tal.
»Zu Hause. Unzählige Male«, antwortete Aron. »Ich bin nie erwischt worden. Man muss nur wissen, wie man die Kasse öffnet. Man muss den Laden vorher auskundschaften.«
Bereits am Tag darauf fuhren sie mit dem Bus nach Jerusalem, wo sie niemand kannte, zumindest kannte niemand Aron. Es war Freitag, und die Kassen würden vor dem Sabbat wohlgefüllt sein. Sie wählten die Seitenstraßen, in denen die Läden kleiner waren. Zweimal schlugen sie zu. Ihre Methode funktionierte ausgezeichnet. Tal und Aron hatten die Läden verlassen, noch ehe die Besitzer gemerkt hatten, dass etwas geschehen war. Sie erbeuteten über vierhundert Schekel. Gut gelaunt nahmen sie den Bus nach Ma’ale Adummim zurück.
Es erwies sich als schwieriger, die Gunst der Mädchen zu erwerben, als das Geld zu stehlen. Das meiste Geld gaben sie stattdessen für sich aus. In der Woche darauf fuhren sie wieder nach Jerusalem. Im ersten Laden ging alles wie geschmiert, zweihundertvierzig Schekel. Dann betraten sie ein kleines Elektrogeschäft. Ein schwarzgekleideter Mann mit dem Hut der Orthodoxen saß hinter dem Ladentisch, eine Registrierkasse gab es nicht. Tal vermutete, dass das Geld ganz einfach in einer Schublade verwahrt wurde. Aron ging ganz nach hinten in den
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