Der Geheimnistraeger
später brachte er das Thema Heirat zur Sprache. Gilah wollte weder ja noch nein antworten, sondern bat ihn, die Sache erst mit ihrem Vater zu besprechen. Auf sein Argument, dass das nur sie etwas angehe und nicht ihre Eltern, wollte sie nicht so recht hören. Einerseits gab sie ihm recht, wandte aber ein, sie wolle ihre tiefreligiösen Eltern nicht verletzen.
Am Abend darauf suchte Tal Gilahs Vater auf und erklärte, er wolle seine Tochter heiraten.
»Dein Vater«, sagte Gilahs Vater, »gehört zur mosaischen Gemeinde in Ma’ale Adummim. Das weiß ich. Aber wie ist es mit deiner Mutter?«
»Sie ist Russin«, antwortete Tal.
»Und welcher Glaubensgemeinschaft gehört sie an?«
»Der russisch-orthodoxen.«
»Wenn sie nicht zu Abrahams Stamm gehört«, sagte Gilahs
Vater, »dann gehörst auch du nicht dazu. Kein Rabbi kann euch trauen. Eine Ehe zwischen Gilah und dir ist unmöglich.«
Tal wandte sich an Gilah. »Wir können auf Zypern heiraten«, sagte er. »So machen es alle anderen Paare in unserer Situation. «
Gilah antwortete nicht. Ihr Vater stand auf, offenbar erzürnt, dass sich Tal ihm widersetzte.
»Ausgeschlossen! Gilah wird dich nicht heiraten. Niemals! Jetzt muss ich dich bitten, unser Haus zu verlassen.«
Am Tag darauf rief Tal Gilah an. Er wollte sie sehen. Sie antwortete, sie habe zu tun. Tal bestand darauf. Er würde sie um vier Uhr auf dem Zionplatz erwarten. »Das wird nicht leicht«, antwortete Gilah.
Tal traf bereits um Viertel vor vier auf dem Platz ein. Er konnte nicht stillstehen, er hatte zuviel Unruhe in den Gliedern. Er merkte, dass die Soldaten, die den Platz bewachten, in seine Richtung schielten, obwohl er ganz offensichtlich kein Palästinenser war.
Um halb sechs gab er auf. Langsam kehrte er in sein kleines Zimmer im Erdgeschoss des Hotels zurück. Die Worte der Vermieterin aus seinem ersten Jahr in Jerusalem hallten ihm im Kopf wider: »Bist du ein echter Jude?« War er denn nicht nach Israel gekommen und hatte die Landesgrenzen durch seine bloße Anwesenheit in der jüdischen Siedlung erweitert? Hatte er nicht in der Armee sein Leben aufs Spiel gesetzt? Hatte er nicht die Feinde des Landes Israel getötet? Er, Tal, hatte es nicht verdient, verstoßen zu werden.
VINCENT
16. Kapitel
Es wäre falsch zu behaupten, das Sommerhaus sei Vincent Paulsens teuerster Besitz. Am meisten liebte er seine beiden Töchter, die elfjährige Tilde und die neunjährige Anne. Aber sie liefen gewissermaßen außer Konkurrenz, sie stellten in seiner Welt unvergleichliche Größen dar. Es wäre einfach absurd gewesen, auch nur zu versuchen, die Frage zu beantworten, welcher Verlust ihn am meisten treffen würde. Der von Tilde, Anne oder des Sommerhauses?
Aber es entsprach schon der Wahrheit, dass ihm dieser Platz in Tisvildeleje sehr viel bedeutete. Er hegte ein besonderes Gefühl für das Haus und für das Grundstück, auf dem es stand. Bei den gegenwärtigen Immobilienpreisen hätte Vincent Paulsen es sich mit seinem Polizistengehalt nie leisten können. Früher war das anders gewesen. Seine Eltern hatten das Haus Anfang der 50er Jahre gekauft. Vincent Paulsen nannte Freunden und Verwandten auf Besuch manchmal den Kaufpreis, und alle waren verblüfft und beglückwünschten ihn neidisch. Manche mathematisch begabte Skeptiker versuchten den Preis der aktuellen Kaufkraft anzupassen, mussten dann aber auch konstatieren, dass er fast unverschämt niedrig gewesen war.
Das Haus war nichts Besonderes, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine etwas altmodische Küche. Ein Stockwerk.
Die Außenwände bestanden aus braun gebeizten, horizontalen Brettern, und selbst Vincent fand sie recht hässlich. Aber er veränderte nichts, ein bewusster Entschluss, obwohl oder vielleicht weil das Haus immer, Vincents ganzes Leben lang, so ausgesehen hatte. Es glich einem alten Freund, und die Wände waren das Erste, was er sah, wenn er mit seinem Auto aus Kopenhagen kam. Das Haus biederte sich bei ihm nicht an. Das hatte es nicht nötig. Die beiden gehörten zusammen.
Das Grundstück mit seinen niedrigen Nadelbäumen, Brombeerbüschen, Blumenbeeten und Steingärten war da schon wesentlich ansehnlicher. Er legte den Garten gemächlich an, in kleinen Etappen, nie zu große und einschneidende Veränderungen. Vincent Paulsen besaß einen grünen Daumen und kannte die Namen sämtlicher Pflanzen, die in seinem Garten wuchsen. Wenn er in Tisvildeleje war, hatte er das Gefühl, lebendig zu sein.
Vincent Paulsens
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