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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kanger
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Frau hieß Birthe und war genauso alt wie er. In diesem Frühjahr waren sie kein einziges Mal zusammen zum Sommerhaus gefahren. Vincent hatte entweder allein oder überhaupt nicht fahren wollen. Birthe hatte gemeinsame Ausflüge vorgeschlagen, aber jedes Mal nur eine ausweichende Antwort von ihrem Mann erhalten. Er sei zu müde, er habe ausgerechnet für dieses Wochenende Handwerker bestellt oder er müsse Überstunden machen. Er hatte es auch abwenden können, dass seine Frau und die Töchter ohne ihn dorthin fuhren.
    Ihr Mann war neuerdings abweisend. Seine Frau verstand nicht, warum. Sie konnte sich auf ihn keinen Reim mehr machen, auf den Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass sie ihn in- und auswendig kenne und dem sie keine verborgenen Abgründe zugetraut hatte. Einige Male hatte sie ein beunruhigender Gedanke gestreift. Doch sie hatte ihn als vollkommen absurd beiseitegewischt. Aber die Kummerspalten der Illustrierten
und Wochenendbeilagen machten lautstark zum Thema, was sie dachte: »Großer Test – So finden Sie heraus, ob Ihr Partner Sie betrügt.«
    Sie entschloss sich, ihn zur Rede zu stellen. Das nahm sie sich für einen der Tage Anfang Juni vor, einen Freitag, an dem die Mädchen bei ihrer Großmutter übernachteten. Falls es eine Szene geben sollte, dann würden ihre Töchter keine Angst bekommen. Birthe versuchte sich mental auf das, was kommen würde, vorzubereiten, aber es schmerzte sie, und sie wusste nicht, ob sie noch eine weitere Woche, genaugenommen noch weitere fünf Tage, würde schweigen können. Aber Freitagnachmittag, nur wenige Stunden vor dem entscheidenden Gespräch, kam Vincent lächelnd von der Arbeit nach Hause. Sie begrüßte ihn reserviert, als er sie umarmte und vorschlug, am nächsten Tag nach Tisvildeleje zu fahren. Er war wieder der Vincent, den sie kannte.
    Etwas Unbekanntes hatte ihr Leben berührt. Sie wusste nicht, was es war, und hoffte nur, dass es nie wiederkehren würde.

17. Kapitel
    Vincent Paulsen war ein friedfertiger Mann, wurde aber jeden Tag mit roher Gewalt konfrontiert. Misshandlungen mit Todesfolge, Vergewaltigungen, Morde und Brandstiftungen gehörten bei der Mordkommission der Kopenhagener Polizei zum Alltag. Die findige Bösartigkeit des Menschen verletzte ihn. Auch rein gefühlsmäßig konnte er die Gewalt nicht verstehen. Er konnte sie einfach nicht nachvollziehen, diese Art von Wut entstand nie in seinem Inneren. Hingegen fiel es ihm sehr leicht, sich in die Situation des Opfers hineinzuversetzen.
    Im Alter von zweiundvierzig war er bereits Kriminalkommissar, ein Titel, der seinen schwedischen Kollegen mehr imponierte als seinen dänischen, da ein Kommissar in Dänemark nur in etwa einem Inspektor in Schweden entsprach. Aber Vincent kümmerte so etwas kaum. Er war mit seinem Leben zufrieden, und obwohl er Gewalt verabscheute, fand er seine Arbeit interessant. Sie entsprach seiner philosophischen Veranlagung. Seine Kollegen vom Dezernat fanden ihn etwas verträumt und zu gefühlvoll, aber auch sympathisch und effektiv. Er war ein Individualist, dessen unerwartete Einfälle und die Gabe, in einer Ermittlung auch die Sichtweise der Gegenseite verstehen zu können, geschätzt wurden. Vincent Paulsen war immer bereit, umzudenken, wenn neue Fakten auf den Tisch kamen.

    Sein bester Freund im Dezernat war Preben Møller. Die beiden Männer waren äußerlich sehr unterschiedlich, Vincent groß und schmal, Møller wesentlich kleiner und recht kompakt, um nicht zu sagen, dicklich. Ein Vergleich mit Dick und Doof kam leicht auf, wenn man die beiden zusammen an einem Tatort beobachtete. Auch hinsichtlich ihrer Charaktere waren sie relativ gegensätzlich. Møller war bodenständig bis an die Grenze der Einfallslosigkeit, aber diesen Mangel glich er durch Beharrlichkeit bei der polizeilichen Arbeit aus. Preben Møller gab nie auf.
    Sie ergänzten sich also sehr gut. Ihre begrenzten Möglichkeiten zeigten sich teilweise schon in der Wahl ihrer Tätigkeit. Wer glaubte, dass der Polizistenberuf die Hochbegabten anzog, hatte zu viele Kriminalromane gelesen. Berufliches Talent ergab sich durch Erfahrung, ein gutes Gedächtnis und erlernte Analysefähigkeit und nicht durch hohe Intelligenz.
    In ihrem Büro im Präsidium am Polititorvet im Zentrum von Kopenhagen, nur einen Steinwurf vom Tivoli entfernt, saßen sie nebeneinander. Von der Straße aus wirkte das Präsidium wie eine uneinnehmbare Festung, ein Sinnbild des Starken, Maskulinen. Aber sein Innenhof offenbarte die

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