Der Geheimnistraeger
dänische Begeisterung für runde, weibliche Formen. Inmitten des riesigen, viereckigen Gebäudes befand sich ein großer, kreisförmiger, offener Platz. Dänisch und auch wieder nicht: Die Form war dem maurischen Märchenpalast, der Alhambra, entlehnt, ein fremder Einfluss in einer Welt, die sich nicht mehr abschotten ließ.
Die Arbeitstage verliefen in gewohnheitsmäßigem Trott, selbst wenn sich die Verbrechen änderten und endlose Reihen von Tätergesichtern an ihnen vorbeizogen. So vergingen die Jahre und glichen einander bis zu diesem Frühjahr. Eines Tages rief Vincent Paulsens Schwester an.
Sie hieß Karoline und war fünf Jahre älter als er. Sie war seine
große Schwester, nicht nur, was ihr Alter betraf. Sie war immer so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn gewesen, sie hatte sich um ihn gekümmert, ihm aber auch einiges abgefordert. Vincent fiel es immer noch schwer, ihr etwas abzuschlagen.
Der Anruf kam an einem feuchtkalten Tag im Februar. »Ich habe ein Problem«, sagte Karoline. »Kannst du frei reden?«
Vincent erhob sich und schloss die Tür seines Büros.
»Jetzt schon«, antwortete er, als er wieder Platz genommen hatte.
Karoline schwieg einen Augenblick. »Nein«, meinte sie dann, »ich glaube, es ist besser, wenn du herkommst.«
»Nach Hornbæk?«
Dort wohnte seine Schwester.
»Bitte so schnell wie möglich.«
Es war kurz nach vier Uhr nachmittags, als Vincent auf der Straße vor dem viergeschossigen Ziegelhaus, in dem Karoline wohnte, einparkte. Seine Schwester hatte eine Zweizimmerwohnung. Seit der Scheidung vor einigen Jahren wohnte sie allein.
Sie wirkte ernst. »Was ist passiert?«, fragte Vincent, als er sich die Schuhe auszog. Sie antwortete nicht, sondern ging vor ihm her ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie erhob sich. Sie war groß und schlank und hatte glattes, dunkles Haar. Sie gaben sich die Hand. Ihre Stimme war dunkel, aber trotzdem kräftig:
»Lydia.«
»Lydia kommt aus Georgien«, sagte Karoline. »Aus Abchasien. Sie musste flüchten. Weswegen, erzähle ich dir später. Aber sie hatte sehr gute Gründe, das kann ich dir versichern. Wir haben ihre Angaben genau überprüft.«
»Wir?«, fragte Vincent.
»Das erkläre ich dir auch später. Setz dich.«
Vincent gehorchte, wie er das immer tat, wenn seine Schwester ihre Befehle erteilte. Auch Lydia setzte sich wieder. Vincent sah seine Schwester fragend an.
»Wie du selbst gut weißt, ist Dänemark mittlerweile ein sehr herzloses Land«, sagte Karoline.
Vincent wollte protestieren. Er besaß ein Herz. Er liebte seine Familie. Er versuchte, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, damit sich die Mitbürger sicher fühlen konnten. Er betrachtete seine Mitmenschen mit Zuneigung, zugegebenermaßen in Abstufungen. Sogar die menschlichen Wracks, die regelmäßig angespült wurden und sich unfassbarer Grausamkeiten schuldig gemacht hatten. Er war nicht herzlos. Er war ein Teil Dänemarks. Aber seine Schwester fuhr, noch ehe er etwas dazu sagen konnte, fort.
»Unsere Asylbewerberpolitik ist unmenschlich geworden. Deswegen soll sie zurückgeschickt werden. Aber wir haben einen Entschluss gefasst. Das muss ein Ende haben. Wir werden ihr helfen.«
»Und wer sind wir?«, fragte Vincent.
»Wir, die wir diesen Entschluss gefasst haben. Das muss einstweilen reichen.«
»Karoline …«, begann Vincent.
Sie unterbrach ihn. »Lass mich erst zu Ende reden.«
Schweigend saß ihnen Lydia auf dem Sofa gegenüber. Aufmerksam verfolgte sie die Diskussion, obwohl Vincent davon ausging, dass sie kein einziges Wort von dem, was gesagt wurde, verstand. Er merkte, dass sie auf etwas anderes achtete: auf die Tonlage der Stimmen und die Körpersprache. Sie schien weder verängstigt noch besorgt zu sein. Sie wartete ab. Sie war ein Mensch, der viele und noch viel schlimmere Dinge erlebt hatte.
»Das Erbe«, sagte Karoline. »Tisvildeleje gehört uns gemeinsam, obwohl du das Haus benutzt. Aber jetzt brauche ich es. Nur eine Weile, nicht für lange. Eine Übergangszeit.«
»Du willst damit doch wohl nicht sagen, dass …«
»Es geht vielleicht nur um ein paar Wochen. Es könnte aber auch länger dauern.«
Vincent sprang, heftiger als beabsichtigt, auf.
»Du bist verrückt. Willst du sie etwa dort vergessen? Stellst du dir das so vor?«
»Setz dich!«
»Ich denke nicht daran, mich wieder hinzusetzen. Das kommt einfach nicht in Frage.«
»Wir müssen alle etwas von unserer Bequemlichkeit
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