Der Geheimnistraeger
opfern. Das ist ein geringer Preis, um sich seine Menschlichkeit zu bewahren. «
»Ich bin Polizist!« Seine Stimme wurde laut. »Begreifst du, was das bedeutet? Es ist in diesem Land verboten, Flüchtlinge zu verstecken. Hier ist das nicht wie in Schweden. Das hier ist, verdammt noch mal, Dänemark.«
»Genau das habe ich eben gesagt«, erwiderte Karoline und lächelte. »Unmenschlich. Es ist ein Verbrechen, Menschen in Not zu helfen. Ist dir das so recht? Ist das dein Dänemark?«
Vincent schüttelte den Kopf. Er setzte sich wieder.
»Ist dir klar, dass die mich feuern, wenn ich eine Straftat begehe? «
»Du sollst sie ja auch gar nicht verstecken. Ich tue das. Du brauchst auch nichts zu wissen, du musst nur einfach Tisvildeleje eine Weile lang meiden. Ich nehme nur den rechtmäßigen Teil meines Erbes in Anspruch.«
»Nein«, sagte Vincent mit Nachdruck. »Nein!«
»Doch«, erwiderte Karoline. »Sie hat zwei Wochen lang bei mir gewohnt, aber das funktioniert nicht auf Dauer. Nicht bei
zwei erwachsenen Frauen mit verschiedenen Gewohnheiten. Das Haus steht leer. Sie kann dort wohnen. Eine kurze Zeit, dann werden wir versuchen, ihr etwas anderes zu besorgen. Aber das kann einen Monat oder so dauern. Wir sind noch zu wenige, um alle Bedürfnisse erfüllen zu können.«
Vincent sah Lydia an. Wer war sie, diese Person, die plötzlich in sein Leben eingriff? Die sich das Recht nahm, ihre Probleme zu seinen zu machen?
Sie erwiderte seinen Blick, ohne ihm auszuweichen. Dann sagte sie plötzlich in gutem Englisch:
»Ich habe in Sachumi an der Universität Englisch und Französisch studiert. Aber der Krieg kam dazwischen. Anschließend bekam ich Schwierigkeiten, weil ich eine Frau bin.«
»Sie war beim Militär«, sagte Karoline. »Sie hat Dinge erlebt, von denen du lieber nichts hören willst.«
»Ich will niemandem zur Last fallen«, sagte Lydia und sah Vincent mit demselben festen Blick an, »aber ich habe keine Wahl.«
Keine Wahl. Vincent verfügte über diesen Luxus, er hatte eine Wahl. Er sah seine Schwester an.
»Die Sache ist somit entschieden«, sagte sie.
18. Kapitel
In den folgenden Monaten fuhr Vincent Paulsen dreimal allein zu dem Haus in Tisvildeleje. Das erste Mal, um Lydia zu erläutern, wie alles im Haus funktionierte und wie sie sich zu verhalten habe. Die Gegend war im Frühjahr meist unbewohnt, aber seine Nachbarn fuhren gelegentlich zu ihren Häusern, insbesondere an Wochenenden. Sie durfte das Haus unter keinen Umständen verlassen, wenn Autos vor den Nachbarhäusern standen.
Das zweite Mal ließ er sich von Karoline dazu überreden, mit zwei Tüten voll Lebensmittel und Kosmetikartikel dorthin zu fahren. »Wir« konnten einige Tage lang nicht fahren, und einige Dinge waren zur Neige gegangen. Entweder würde Lydia im Ort einkaufen müssen oder Vincent musste fahren. Das hatte seine Schwester gesagt. Er hatte geseufzt und das Gefühl gehabt, gefangen zu sein.
Vincent beschloss, nicht weiter danach zu fragen, wer »wir« waren. Auf diese Weise konnte er wiederum seine aktive Teilnahme leugnen. Er redete sich ein, dass sein Besuch ihn nicht zum Komplizen des Vorhabens seiner Schwester machte. Ob die dänische Justiz seine lächerlichen Ausflüchte gelten lassen würde, war eher zweifelhaft, dessen war er sich bewusst. Aber das sollte ihn später bekümmern, im Augenblick war Selbstbetrug angesagt.
Der zweite Besuch fiel länger als beabsichtigt aus. Lydia war einsam, die Besuche von Vincent oder von »wir« waren die einzigen Unterbrechungen eines Daseins, von dem er annahm, dass es ziemlich trostlos war. Ihre einzige Gesellschaft waren das dänische Fernsehen und die englischen Bücher, die Karoline ihr gegeben hatte. Aber Lydia ließ sich nicht entmutigen, das sah er, obwohl sie seit ihrer ersten Begegnung in der Wohnung seiner Schwester abgenommen hatte. Er weigerte sich, die juristischen Aspekte ihrer Lage zu besprechen. Zuhören, vielleicht, aber überlegen, Ratschläge erteilen: nein . Das ginge einen Schritt zu weit. Damit würde er sich unwiderruflich zum Komplizen machen, das Verstecken eines illegalen Flüchtlings verstieß gegen dänische Gesetze. Falls es rauskam, würde er seine Arbeit verlieren.
Lydia verstand sein Dilemma. Sie begann stattdessen vom Leben in Suchumi, einem Badeort am Schwarzen Meer, zu erzählen. Einmal war Suchumi ein Paradies gewesen, so hatte es zumindest geheißen. Dann verkam es zum Hinterhof des überreifen Realsozialismus. Es wurde ein Paradies,
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