Der Geheimnistraeger
in dem die Äpfel an den Zweigen verfaulten. Nach der Auflösung der Sowjetunion verwandelte es sich in einen Schauplatz für die Streitenden, in dem im tödlichen Kampf um die Macht ständig die Messer gewetzt wurden. Wie die Sache ausgehen würde, wusste immer noch niemand.
Lydia war in den Strudel der Ereignisse hineingezogen worden. Sie hatte einen Zug von Soldatinnen angeführt. Vincent hatte den Eindruck, dass ihr Alltag stärker von Gewalt geprägt gewesen war als der seinige. Schließlich war sie von georgischen Regierungstruppen gefangen genommen worden. Dieser Teil der Erzählung fiel sehr vage aus. Vincent las jedoch genug in ihrem Gesicht und fragte nicht nach Details. Er fragte auch nicht, wie ihr die Flucht geglückt war.
Es war früher Abend, als er sie verließ. Er ertappte sich dabei, dass er auf dem Weg nach Hause nach Kopenhagen an sie dachte. Er dachte auch noch an sie, als er am nächsten Morgen neben seiner Frau erwachte. Anschließend vermied er es recht lange, nach Tisvildeleje zu fahren. Seiner Schwester teilte er mit, das »Wir« müsse sich in Zukunft um alle praktischen Dinge kümmern und Lydia müsse das Haus vor dem Sommer verlassen haben. In den Sommerferien würden sich Tilde und Anne nicht mehr fernhalten lassen. Karoline versprach es ihm.
An einem der letzten Maitage fuhr er wieder hin, ein drittes Mal. Er hatte eigentlich keinen Grund. Nur, dass Lydia einsam war. Sich selbst gegenüber rechtfertigte er den Besuch als Akt der Menschenliebe.
19. Kapitel
Anfang Juni rief Karoline an. In der Sache hatte sich nichts Neues ergeben. Lydias Zukunft war genauso unsicher wie zuvor. »Wir« hatten mittels Anwalt so nachdrücklich wie möglich gehandelt. Aber seine Schwester hielt, was sie versprochen hatte. Nun würde Lydia in ein neues Versteck umziehen. Das »Wir« hatte ein Zimmer in einer Wohnung in einer kleineren Stadt besorgt.
»Sie zieht nach Korsør«, sagte Karoline.
»Das will ich nicht wissen«, antwortete Vincent, obwohl es schon zu spät war.
»Danke«, sagte Karoline.
»Es gibt nichts zu danken«, erwiderte Vincent. »Überhaupt nichts. Das hier hatte nichts mit mir zu tun. Das ist deine Angelegenheit, nicht meine. Du, nicht ich. Bitte kein weiteres Mal.«
Am selben Abend umarmte er seine Frau und schlug vor, dass sie, Tilde, Anne und er endlich am Wochenende nach Tisvildeleje fahren würden. Er klang dabei, als wäre nichts gewesen. Seine Frau sah ungemein froh aus, fast erlöst.
In der Nacht lag er wach. Korsør. Die Stadt am Ende der langen Brücke zwischen Seeland und Fünen, die Verbindung der Inseln über den Großen Belt. Die Brücke, die Menschen verband.
Die Stadt, in der die Dänische Volkspartei, die politische Kraft, die Menschen wie Lydia loswerden wollte, in den Parlamentswahlen am besten abgeschnitten hatte.
Korsør. Vincent Paulsen wollte das nicht wissen.
2. TEIL: DIE BESETZUNG
20. Kapitel
Einige Leute schrien immer noch, als Vincent Paulsen das Flatterband am H.C. Andersens Boulevard anhob und den eigentlichen Tatort mit dem Opfer betrat. Er hatte schon viel gesehen, aber bereits auf diese Distanz wusste er, dass sich das hier unausweichlich in seiner Erinnerung festsetzen würde.
Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge rotierten, drängelnde Neugierige stießen mit den Menschen zusammen, die versuchten, hier wegzukommen. Uniformierte taten ihr Möglichstes, Ordnung in das Chaos zu bringen. Es war ihnen nur gelungen, einen kleineren Teil des Rådhuspladsen abzusperren. Innerhalb der Absperrung befand sich auch noch eine größere Anzahl Journalisten und Fotografen von Ekstrabladet und Politiken, die sofort aus ihren Redaktionsräumen gestürzt waren, die praktischerweise direkt neben dem Schauplatz der Ereignisse lagen.
»Es muss Panik ausgebrochen sein«, sagte Paulsen und wandte sich an seinen Kollegen Preben Møller. »Es könnte schwer werden, gute Zeugen zu finden.«
Vincent Paulsen schaute auf die Reste dessen hinab, was einmal ein Mensch gewesen war. Von unten nach oben: an den Füßen Joggingschuhe. Die Beine in blauen Jeans, der Oberkörper in einem T-Shirt, das einmal grün gewesen war. An den Armen
war zu erkennen, dass es sich um einen weißen Mann handelte. Aber diese endeten in Stümpfen, beide Hände fehlten. Ebenso das Gesicht. Nur der Hinterkopf steckte noch im Kragen. Die Haarfarbe war nicht mehr zu bestimmen.
»Was ist da wohl geschehen?«, fragte Møller.
»Das wüsste ich auch gerne«, entgegnete Paulsen, »aber ich
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