Der Geheimnistraeger
kurzgeschnittenem, dunklem Haar. Doris suchte bei den übrig gebliebenen Schlüsseln, fand aber kein Paar mehr, das zum selben Zimmer gehörte.
»Leider«, sagte sie. »Aber das lässt sich sicher einrichten.« Sie nahm zwei Schlüssel und verließ den Empfang. Die Frau mit dem dunklen Haar stellte sich ihr in den Weg. »Nein«, sagte sie. »Geben Sie uns die Schlüssel. Wir kümmern uns selbst um den Tausch.« Der Ton war entschieden, aber nicht unfreundlich. Doris gab ihr sofort die Schlüssel.
Im weiteren Verlauf des Tages sah sie immer mal wieder Gäste in kleinen Gruppen, die Köpfe zusammengesteckt, in eine
Unterhaltung vertieft. Es fanden in den allen zugänglichen Räumlichkeiten keine weiteren Aktivitäten statt. Die meisten Gäste blieben unsichtbar und schienen sich auf ihren Zimmern aufzuhalten. Soweit sie sehen konnte, verließ niemand das Gebäude. Einmal, gegen fünf Uhr nachmittags, trat Doris auf drei Männer zu, die am Fenster des großen Saals, dem Mittelpunkt der Hotelanlage, standen. Sie schlug ihnen vor, am Strand und auf den Dünen am Großen Belt spazieren zu gehen, da ein so ungewöhnlich schöner Tag sei. »Es ist ein so weiter Himmel«, sagte sie. Sie bekam nur ein schwaches Lächeln und ein »vielleicht später« zur Antwort.
Doris fragte auch an diesem Tag nicht, woher die Gruppe eigentlich kam. Die Neuankömmlinge waren ebenso zugeknöpft wie jene Männer, die als Erste eingetroffen waren. Sie konnte kein einziges Wort verstehen, wenn sie sich miteinander unterhielten und wusste auch nicht, welche Sprache sie eigentlich sprachen. Englisch? Diejenigen, die sich mit ihr und ihren Kollegen unterhalten hatten, hatten gutes Englisch gesprochen. Doris kannte sich jedoch nicht gut genug aus, um entscheiden zu können, ob sie irgendeinen Akzent hatten oder einen englischen Dialekt sprachen. Das Schweigen wurde immer durchdringender. Auch bei der späten Mahlzeit waren nur wenige, leise Unterhaltungen zu hören. Man hatte das Gefühl, als hätte sich eine Decke über das Tagungshotel gelegt. Keiner aus der Gruppe bestellte Wein oder Bier zum Essen. Man trank nur Coca-Cola und Wasser. Alle behandelten die Kellner und Kellnerinnen höflich. An ihrem Benehmen war nicht das Geringste auszusetzen. Doris’ routiniertes Lächeln wurde trotzdem immer angestrengter. Diese Leute waren anders als alle Gäste, mit denen sie es bislang zu tun gehabt hatte. Es gelang ihr nicht, irgendeinen von ihnen bei einer menschlichen Regung zu ertappen.
Am nächsten Morgen verließ etwa die Hälfte der Gruppe in ihren Minibussen die Anlage. Sie waren pünktlich zum Mittagessen um halb eins wieder da. Am Nachmittag fuhr die andere Hälfte der Besucher weg und kehrte vier Stunden später wieder zurück. Nach dem Abendessen trafen die Gäste in einigen Konferenzräumen zusammen und baten darum, nicht gestört zu werden. Doris erwog, an der Tür eines der Räume zu lauschen, aber das hätte gegen die Regeln des Hauses verstoßen. Außerdem wagte sie es nicht. Ein Unbehagen, fast ein Gefühl der Gefahr, hatte sie erfasst.
Als sie gegen zehn Uhr abends nach Hause kam, lag die Augustdunkelheit schwer über ihrem Reihenhaus in Korsør. Sie erzählte ihrem Mann von den ungewöhnlichen Gästen. Dieser antwortete einsilbig und konzentrierte sich dann wieder auf den englischen Fernsehkrimi, bei dem sie ihn gestört hatte. Doris erhob sich vom Sofa im Wohnzimmer und ging die Treppe hoch zum Zimmer ihres Sohnes. Der Junge lag auf dem Rücken und schlief friedlich. Er war gerade sieben Jahre alt geworden und hieß Jens. Doris beugte sich über ihn und küsste ihn vorsichtig auf den Kopf. »Schlaf, mein kleiner Prinz«, flüsterte sie. »Dir soll nichts Böses zustoßen.«
27. Kapitel
»Bologna?«
Bjarne Skov betrachtete die Fotos des Rings. »Ja, möglicherweise. Sonst haben wir nichts in der Hand.«
Er nahm an seinem Schreibtisch Platz. »Was könnte uns wohl voranbringen, Vincent?«
Paulsen stand, die Hände hinter dem Rücken, vor ihm. Er wippte etwas vor und zurück, wie eine Fahnenstange bei Sturm. »Erst müssen wir uns bei unseren Kollegen in Bologna erkundigen, ob bei ihnen ein Mann in entsprechendem Alter vermisst gemeldet worden ist. Falls das nicht glückt … Vittoria, Donata, Sophia und Frances. Mit etwas Glück finden wir eine Familie mit diesem Stammbaum in Bologna.«
»Falls es sich wirklich um einen Stammbaum handelt«, meinte Skov. »Und falls der Ring wirklich aus Bologna stammt. Wenn dem so ist, bedeutet
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