Der Geheimnistraeger
Unterschied zur Polizia, die dem Innenministerium unterstand. Ihr Kontaktmann Gaetano Gandini hatte auch einen militärischen Rang, er war Capitano .
Paulsen schnappte einige wesentliche Begriffe auf, als Christian sie vorstellte und ihr Anliegen erläuterte, gefolgt von einem Grazie und einem höflichen Lächeln. Der Beamte im Schilderhäuschen griff zum Telefon, und eine Minute später erschien ein ziemlich kleiner Mann in Vincents Alter, um sie abzuholen. Gaetano Gandini strahlte Kraft aus, eine Warnung an seine Umgebung, ihn nicht zu unterschätzen. Vincent fiel auf, dass Gandini sein Uniformhemd offen trug, und er sehnte sich danach, sich seines Schlipses entledigen zu können. Nachdem sie sich begrüßt hatten, führte Gandini Paulsen und Christian in ein enges und einfach möbliertes Besprechungszimmer. An der Wand hing ein Plakat. Ein lächelndes Mädchen auf einer Vespa. Auf dem Tisch standen drei Espressotassen.
»Meine Herren!«, sagte Gaetano Gandini, nachdem sie Platz genommen hatten. »Sie sind in einer wichtigen und eiligen Angelegenheit hier, importante e urgente . Ich schlage also vor, dass wir sofort zur Sache kommen. Als ich vorgestern Ihre Anfrage erhielt, habe ich sofort Signor Franchetti in die Sache eingeschaltet. Er ist einer der bekanntesten Ahnenforscher des Landes
und wohnt glücklicherweise in Bologna. Außerdem ist er Chef unseres Stadtarchivs. Wir haben schon früher von seinen großen Kenntnissen profitieren können. Ich habe vor einer halben Stunde mit Signor Franchetti gesprochen. Er kann uns sofort empfangen.«
Gaetano Gandini leerte seinen Espresso in einem Zug und erhob sich. »Lassen Sie uns keine Zeit vergeuden«, sagte er und deutete mit der Hand zum Ausgang, die Tür, durch die sie eben erst gekommen waren.
Das Stadtarchiv lag am anderen Ende der Stadt, und Vincent Paulsen meinte in einen neorealistischen Schwarzweißfilm aus den 40er Jahren geraten zu sein, leider spielte Anna Magnani nicht mit. Signor Franchetti verstärkte diesen Eindruck noch. Er schien geradewegs der Vergangenheit entsprungen zu sein, erfüllt von großen Kenntnissen und stundenlangen Mahlzeiten im Kreise der Familie. Er sprach langsam und nur Italienisch. Paulsen überlegte sich, ob Christian seine sprachliche Überlegenheit wohl dazu verwenden würde, ihn außen vor zu halten. Es gab Leute, die das taten. Aber sobald der Small Talk vorüber war, übersetzte Christian alles, was gesagt wurde. Er überließ es auch Vincent, ihr Anliegen vorzubringen.
»Wir hoffen, eine Familie in Bologna zu finden, in der diese vier Frauennamen vorkommen«, sagte Vincent und überreichte Signor Franchetti einen Stapel Fotos. »Falls wir diese Familie ausfindig machen, erfahren wir vielleicht, wer den Ring getragen hat.«
»Haben Sie den Ring dabei?«, mischte sich Gaetano Gandini ein.
»Ja«, antwortete Vincent.
»Und der Mann, der den Ring getragen hat, ist tot? Ermordet? «
»Ja.«
»Da wir nicht wissen, wer er ist«, meinte Gandini, »wissen wir auch nicht, ob seine Familie weiß, dass er tot ist. Das habe ich doch richtig verstanden?«
»Leider ja.«
»Es könnte also eine recht heikle Angelegenheit sein«, meinte Signor Franchetti. »Ich beneide Sie nicht darum. Aber ich tue natürlich, was ich kann.«
» Tante grazie «, sagte Christian.
»Signor Gandini hatte die Freundlichkeit, mir die vier Namen schon gestern zu geben«, sagte Signor Franchetti. »Mit Hilfe eines Assistenten, eines Mannes, der schon länger hier ist als ich, habe ich einige Nachforschungen angestellt. Wie Sie sich vorstellen können, wäre eine umfassende Recherche recht aufwendig. Sie würde erfordern, dass wir jede Vittoria, die hier Ende des 19. Jahrhunderts ansässig war, und ihre Nachkommen unter die Lupe nähmen.«
»Das ist uns klar«, meinte Paulsen. »Wir hoffen, dass sich dieses Verfahren irgendwie abkürzen lässt.«
Signor Franchetti erhob sich etwas mühsam und trat auf einen Wagen, ein rollendes Archivregal, zu. Auf diesem standen fünf dicke Lederbände. Er zog den Wagen an seinen Sessel heran und setzte sich wieder.
»Bei diesen Bänden handelt es sich um ›La Famiglia Bolognese‹, ein imponierendes Werk, das von einigen meiner Vorgänger im Dienste der Stadt geschaffen wurde. Es enthält Biografien aller herausragenden Familien der Stadt sowie deren Stammbäume. Wie Sie sicher wissen, ist Bologna eine Stadt mit einer weit zurückreichenden Vergangenheit. Hier liegt die älteste Universität Europas. Haben Sie
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