Der Geheimnistraeger
das auch nur, dass Vittoria aus Bologna stammt. Die Familie kann am Tag darauf irgendwohin verzogen sein. Oder das Ganze ist ohnehin nur ein Zufall. Hatte dein Juwelier nicht von einem Souvenir gesprochen? Vielleicht waren Vittorias Eltern mit ihrem Neugeborenen auf der Durchreise? Touristen. Die hat es wohl im 19. Jahrhundert auch schon gegeben.«
Vincent wippte weiter vor und zurück. »Es ist, wie du selbst sagst. Mehr haben wir nicht in der Hand.«
»Vermutlich bleibt uns nichts anderes übrig, auch wenn es teuer wird. Sprichst du Italienisch?«
Vincent schüttelte den Kopf.
»Ich möchte trotzdem, dass du hinfährst«, sagte Skov. »Bitte jemanden, sich um die Formalitäten bei den Italienern zu kümmern, und überlege dir, was du dort unten ausrichten kannst. Ich versuche unter den Kollegen jemanden aufzutreiben, der diese Operettensprache beherrscht und mitfahren kann.«
Am nächsten Abend saß Vincent Paulsen in einer Maschine nach Mailand. In der Tasche hatte er den Ring. Einen Schlüssel und einen Ring, das war alles, was der unbekannte Tote hinterlassen hatte. Nur Rätsel, sonst nichts. Møller suchte den Schrank, der sich mit dem Schlüssel öffnen lassen würde. Der Ring war ebenfalls ein Schlüssel, der die Geheimnisse eines Menschen erschloss. Hinter den Namen verbarg sich ein Zusammenhang, verbargen sich über hundert Jahre menschlicher Erfahrungen, Liebe, Hass, Krieg, Freude, Arbeit und Streben nach einem menschenwürdigen Dasein. Jeder Name in diesem Ring war ein eigenes Universum, vor der Geburt und nach dem Tod gab es nichts. Für den Mann vom Rådhuspladsen hatte die Welt im Augenblick der Explosion aufgehört zu existieren.
Vincent würde nie verstehen, wie man einem Menschen alles nehmen konnte, was er hatte, das einzige Unersetzliche, das er besaß. Das ließ sich nicht ungeschehen machen. Mord war unwiderruflich. Aber war der Tote auch ein Mörder, vielleicht gar ein Terrorist gewesen? Ein Mann, der es für sein Recht hielt, das Leben anderer auszulöschen? Deutete nicht die extreme Gewalt, der er ausgesetzt gewesen war, daraufhin? Diese Möglichkeit hatten Christian und sein Chef Terfig von der Sicherheitspolizei durchaus in Betracht gezogen.
Christian saß auf dem Platz neben Paulsen. Vincent war etwas
erstaunt gewesen, dass die Wahl auf den jungen Kollegen von der Sicherheitspolizei gefallen war. Normalerweise rekrutierte man Assistenten vom eigenen Dezernat. Vermutlich war die Auswahl an Kollegen, die Italienisch beherrschten, nicht sonderlich groß gewesen.
»Du sprichst also Italienisch?«, fragte Vincent und versuchte sich bequemer hinzusetzen, ohne seinem Vordermann seine Knie in den Rücken zu rammen.
»Ich habe drei Jahre in Rom gewohnt«, antwortete Christian.
Vincent nickte. »Sprichst du auch noch andere Sprachen?«
»Ja. Spanisch, Englisch, Deutsch, Französisch und ganz brauchbar Hebräisch. Und dann noch ein paar weitere so zum Durchschlagen.«
»Ein paar weitere zum Durchschlagen«, murmelte Vincent.
Christian lächelte ihn an. »Das hat sich so ergeben. Mein Vater ist Diplomat. Wir sind ziemlich oft umgezogen. Die Sprachen gab es gratis.«
»Mein Vater hatte einen Eisenwarenladen«, sagte Paulsen. »Er hatte schon mit Schwedisch Schwierigkeiten. Aber er kannte seine Grundtvig.«
Christian wechselte das Thema. »Und, die Planung, wie sieht die aus?«
»Ein Kollege namens Gaetano Gandini ist unser Kontaktmann. Er spricht offenbar Englisch, so dass ich mich hoffentlich auch mit jemandem verständigen kann. Einen Vermissten, der in Frage gekommen wäre, gab es nicht, Gandini hat mir versprochen, dass wir uns morgen mit einem Ahnenforscher unterhalten dürfen. Danach … reine Improvisation.«
Die zweihundert Kilometer gen Süden nach Bologna legten sie in einem Mietwagen zurück. Gegen Mitternacht trafen sie dort ein. Vincent fragte sich, wo ihre Reise enden würde.
Es war erst neun Uhr morgens, aber schon sehr warm, als Vincent und Christian das Hauptquartier der Carabinieri in Bologna aufsuchten. Beide trugen einen Anzug. Für Christian war das selbstverständlich, sein Anzug sah maßgeschneidert aus und war es vermutlich auch. Er gehörte zu den Männern, die in jeder Kleidung lässig wirkten. Vincent hatte mit Krawatte immer das Gefühl, erdrosselt zu werden.
Das Hauptquartier der Carabinieri lag unmittelbar südlich der Altstadt mit ihren neun Stadttoren und erinnerte mehr an eine Kaserne. Die Carabinieri gehörten zum Verteidigungsministerium im
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