Der Geheimnisvolle Eremit
dem Stall verschwunden. Der Stall lag leer und still; nur im letzten Verschlag war fröhliches Zwitschern und Schnattern und Gelächter zu hören. Richard war früh heruntergekommen, um sein Tier zu streicheln und zu loben, nachdem es ihn so tapfer getragen hatte. Edwin, der sich freute, wieder mit seinem Spielgefährten zusammen zu sein, war ihm gefolgt. Sie machten Lärm wie ein Schwarm junger Schwalben, bis sie Cadfael kommen hörten. Da verfielen sie sofort in ein sehr ernstes und züchtiges Schweigen, bis sie um die Ecke lugten und erkannten, daß es weder Bruder Jerome noch Prior Robert war. Wie um sich zu entschuldigen, begrüßten sie ihn mit einem breiten Grinsen und kehrten in den Verschlag des Ponys zurück, um es weiter zu streicheln und zu bewundern.
Cadfael war neugierig, ob Frau Dionisia schon ihren Enkelsohn aufgesucht hatte und wieviel Mühe sich die herrische Frau gegeben hatte, mit ihm ein gutes Einvernehmen herzustellen. Auf keinen Fall würde sie sich selbst demütigen.
Eher paßte eine Art selbstgerechter Bescheidenheit zu ihr:
»Richard, ich habe mit dem Abt über deine Zukunft gesprochen und mich einverstanden erklärt, dich einstweilen in seiner Obhut zu belassen. Cuthred hat mich schrecklich enttäuscht, er war gar kein Priester, wie er behauptete. Dieses Zwischenspiel ist vorbei, und wir sollten es so bald wie möglich vergessen.«
Und wahrscheinlich hatte sie mit einer Bemerkung geschlossen, die etwa so klang: »Und wenn ich dich hier bleiben lasse, junger Herr, dann sorge dafür, daß ich nur das Beste von dir höre. Sei deinen Herren gegenüber gehorsam und steck die Nase in die Bücher…« Und zum Abschied vielleicht einen Kuß, der etwas wärmer gegeben und etwas weniger ängstlich und respektvoll aufgenommen wurde als sonst, da ihm inzwischen klar war, was er gegen sie aufbieten konnte, wenn er wollte. Und innerlich hatte Richard gewiß triumphiert. Ihm fiel es nicht schwer, die Ängste um die eigene Zukunft und um die Menschen, die ihm teuer waren, zu vergessen. Er war kein Kind, das lange einen Groll gegen irgend jemand auf der Welt hegen konnte.
Um diese Stunde war Rafe de Genville, Vasall und Freund von Brian FitzCount und ergebener Diener der Kaiserin Maud, wahrscheinlich schon weit von Shrewsbury entfernt auf seinem langen Ritt in den Süden. Ein stiller, unaufdringlicher und unscheinbarer Mann, dessen Anwesenheit man kaum bemerkt hatte und den man bald wieder vergessen würde.
»Er ist fort«, sagte Cadfael. »Ich wollte Euch nicht mit der Entscheidung belasten, obwohl ich zu wissen glaube, was Ihr getan hättet. Aber so habe ich es Euch abgenommen. Er ist fort, und ich habe ihn gehen gelassen.«
Sie saßen wie so oft nach einer überstandenen Krise müde, aber entspannt, auf der Bank an der Nordmauer des Herbariums beisammen, wo sich die Mittagwärme etwas hielt und der leichte Wind sie nicht erreichen konnte. In ein oder zwei Wochen würde es zu kalt und trostlos sein, um hier draußen zu sitzen. Der ausgedehnte, milde Herbst konnte nicht mehr lange halten, und die Wetterfühligen begannen schon, in der Luft zu schnüffeln und die ersten harten Fröste und reichlich Schnee für den Dezember vorauszusagen.
»Ich habe nicht vergessen«, erwiderte Hugh, »daß dies der Morgen ist, für den Ihr mir ein passendes Ende versprochen habt. Er ist also fort! Und ihr habt ihn gehen gelassen! Bosiet könnt Ihr nicht meinen, denn Ihr habt ja ungeduldig darauf gewartet, daß er endlich seiner Rache überdrüssig wird und aufbricht, und wäre es nach Euch gegangen, so hättet Ihr ihn liebend gern schon früher fortgeschickt. Nun sprecht, ich höre.«
Er war ein guter Zuhörer, der Cadfael nicht mit Ausrufen oder sinnlosen Fragen unterbrach. Er saß nur da, starrte sinnend und in aufmerksamem Schweigen in den umgegrabenen Garten, ohne seinen Freund durch einen Blick zu stören, ohne ein Wort zu verpassen und ohne viele Worte hören zu müssen, um zu verstehen.
»Ich muß die Beichte ablegen. Wollt Ihr mein Priester sein?« fragte Cadfael.
»Und Eure Beichte vertraulich behandeln – ich weiß schon!
Meine Antwort ist ja. Aber bisher brauchte ich Euch noch nie die Absolution zu erteilen. Wer ist dieser Mann, der fort ist?«
»Sein Name ist Rafe de Genville«, antwortete Cadfael. »Er nannte sich hier Rafe von Coventry, Falkner des Grafen von Warwick.«
»Der stille ältere Mann mit dem kastanienbraunen Pferd? Ich glaube, ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen«, sagte Hugh.
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