Der Geheimnisvolle Eremit
einen skrupellosen Mann von ungeheurem Wert sein, wenn er sich eine neue Karriere aufbauen und die Gunst der Prinzen in Anspruch nehmen will. Sie hat einen Gatten, der Jahre jünger ist und keine große Liebe für sie empfindet und nicht bereit war, in diesem Sommer auch nur einen Mann zu ihrer Hilfe zu schicken. Angenommen, Geoffrey kommt es eines Tages in den Sinn, seine ältere Frau zu verstoßen und eine zweite, profitable Ehe zu schließen? In den Händen eines Mannes wie Bourchier ist ein solcher Brief pures Gold wert. Wer dem Gemahl der Kaiserin einen solchen Brief bringt, darf damit rechnen, Rang, Stellung und sogar Ländereien in der Normandie zu bekommen. Geoffrey hat dort neu eroberte Burgen an jeden zu vergeben, der sich ihm nützlich macht. Ich sage nicht, daß der Graf von Anjou ein solcher Mann ist, aber ich sage, daß ein gerissener Verräter wie Bourchier mit dieser Möglichkeit rechnen und den Brief behalten würde, um ihn gegebenenfalls zu benutzen. Ich weiß nicht, und ich fragte nicht, welches Wissen und welcher Verdacht Rafe de Genville auf den Gedanken brachte, an jenem Todesfall an der Straße nach Wallingford zu zweifeln. Aber gewiß ist, daß ihn nichts mehr davon zurückhielt, den Schuldigen zu verfolgen und ihn zu bestrafen, sobald der Funke des Mißtrauens entflammt war.
Und die Strafe traf keinen Mörder, sondern den Dieb und Verräter selbst: Renaud Bourchier.«
Der Wind wurde stärker, der Himmel klarte auf und einige zerfetzte Wolken flohen vor der Brise. Der lange Herbst ging merklich in den Winter über.
»Ich hätte mich verhalten wie Rafe«, erklärte Hugh entschieden und stand plötzlich auf, wie um seinen Widerwillen abzuschütteln.
»Ich ebenfalls, als ich noch Waffen trug. Es wird kalt«, sagte Cadfael und stand ebenfalls auf. »Sollen wir hineingehen?«
Der späte November würde Frost und Stürme bringen und die letzten an den Ästen zitternden Blätter fortreißen. Die verlassene Einsiedelei im Wald von Eyton mochte kleinen Tieren des Waldes im Winter Unterschlupf bieten, und der jetzt wieder ungestört wachsende Garten würde die kleinen Geschöpfe während des Winterschlafes in ihren Nestern schütz en. Frau Dionisia würde wohl nie wieder einem Eremiten die Klause geben. Die Wildnis würde sie in aller Unschuld erobern.
»Nun«, sagte Cadfael, während er seinen Freund zur Hütte führte, »jetzt ist es vorbei. Endlich, endlich ist der Brief mit den Worten, die sie schrieb, zu dem Mann unterwegs, für dessen Herz sie bestimmt sind. Und ich bin froh darüber! Wie immer man über dieses Paar urteilen mag, in den Klauen von Gefahr und Verzweiflung ist die Liebe berechtigt, sich zu offenbaren, und alle anderen sollten blind und taub sein. Außer Gott natürlich, der die Zeilen und zwischen den Zeilen lesen kann und der am Ende, ob es um leidenschaftliche Gefühle oder um Gerechtigkeit geht, das letzte Wort sprechen wird.«
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