Der Geheimnisvolle Eremit
wäre wahr, aber so sei es nicht. Und er sprach die Wahrheit. Jedes Wort, das er mir sagte, war die Wahrheit, und ich wußte es. Nein, Cuthred war kein Mörder; das wurde er erst, als Drogo Bosiet auf der Suche nach dem entlaufenen Leibeigenen seine Klause betrat und sich von Angesicht zu Angesicht dem Mann gegenübersah, mit dem er vor einigen Wochen in Thame geredet und Schach gespielt hatte. Ein Mann, der damals völlig anders bekleidet gewesen war, der Waffen getragen und sich verhalten hatte wie ein Ritter, der dennoch zu Fuß gegangen war, weil es in den Ställen in Thame kein Pferd für ihn gab. Er war unberitten gekommen und unberitten gegangen. Das war Anfang Oktober.
All dies erzählte Aymer uns, nachdem sein Vater zum Schweigen gebracht worden war.«
»Allmählich«, sagte Hugh langsam, »beginne ich, Euer Rätsel zu verstehen.« Er kniff die Augen zusammen und blickte nachdenklich in die Ferne, durch die halbnackten Äste hindurch, die über der Südmauer des Gartens zu sehen waren.
»Wann hättet Ihr schon einmal eine verblüffende Frage ohne Hintergedanken gestellt? Ich hätte es gleich wissen sollen, als Ihr nach dem Pferd fragtet. Ein Reiter ohne Pferd in Thame und ein Pferd ohne Reiter, das in Wallingford herumstreunt, das paßt zusammen, wenn man es zusammenfügt. Aber nein!« rief er, schockiert und wütend und war entsetzt über die Folgerungen. »Wohin habt Ihr mich geführt? Ist es die Wahrheit, oder gehe ich fehl? War es Bourchier selbst?«
Die ersten kalten Abendwinde schüttelten die abgeernteten Sträucher, und Hugh schüttelte sich ungläubig und entsetzt mit ihnen. »Was könnte einen so schrecklichen Verrat wert sein?
Das war doch schlimmer als Mord.«
»So dachte Rafe de Genville auch. Und er hat angemessene Rache dafür genommen. Nun ist er fort, und ich wünschte ihm alles Gute.«
»Das hätte ich auch getan. Ich auch!« Hugh starrte mit geschürzten Lippen in den Garten und dachte an den schrecklichen, gemeinen Verrat. »Ich kann mir nicht vorstellen, was man sich um einen solchen Preis kaufen kann.«
»Renaud Bourchier war anscheinend anderer Meinung, anscheinend hatte er andere Wertvorstellungen. Zunächst gewann er sein Leben und seine Freiheit«, erklärte Cadfael und zählte seine Argumente an den Fingern ab, während er jeden Punkt mit einem Kopfschütteln kommentierte. »Indem sie ihn aus Oxford herausschickte, bevor sich der stählerne Ring schloß, gab sie ihm die Freiheit, in sichere Gefilde zu fliehen.
Ich glaube nicht, daß er billigerweise einfach ein Feigling war.
Er hat eiskalt überlegt, wie er der Gefahr von Tod oder Gefangennahme entgehen könnte, die den Truppen der Kaiserin in Oxford näher auf den Fersen war als irgendwo bisher. Ganz kalt und nüchtern sagte er sich von allen Treueschwüren los und verkleidete sich, um auf die nächste Gelegenheit zu warten. Zweitens hatte er durch den Diebstahl des Schatzes, den sie ihm anvertraute, genug zum Leben, wohin auch immer er ging. Und drittens und am schlimmsten hatte er eine mächtige Waffe, eine Waffe, die benutzt werden konnte, um wieder als Soldat dienen zu können, um Land zu erhalten und um sich eine Stellung zu verschaffen, die der aufgegebenen mindestens ebenbürtig war. Ich meine den Brief der Kaiserin an Brian FitzCount.«
»Im verschwundenen Brevier«, sagte Hugh. »Ich konnte mir den Diebstahl zunächst nicht erklären, obwohl das Buch natürlich einen gewissen Wert besitzt.«
»Der Wert des Briefes darin war noch größer. Rafe erzählte es mir. In den Einband kann ein dünnes Blatt Pergament gesteckt werden. Bedenkt ihre Situation, Hugh, als sie den Brief schrieb. Die Stadt verloren, nur die Burg hielt sie noch, und die Armeen des Königs rückten heran. Und Brian, der ihre rechte Hand gewesen war, ihr Schild und Schwert und in ihrer Gunst der zweite nach ihrem Bruder, war nur durch wenige Meilen von ihr getrennt, die ebensogut ein Ozean hätten sein können. Gott weiß, ob die Gerüchte zutreffen«, sagte Cadfael, »aber die beiden sollen Geliebte sein; auf jeden Fall aber lieben sie sich!
Und nun in dieser extremen Lage, angesichts der Hungersnot, angesichts der Niederlage, der Gefangenschaft, der Trennung und sogar des Todes, vielleicht in der Angst, sich nie wieder zu sehen – mag sie ihm da nicht die letzte Wahrheit zugerufen haben, ohne jede Umschreibung, Dinge, die nicht niedergeschrieben werden sollten, die kein anderer auf der Erde jemals sehen sollte? Ein solcher Brief könnte für
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