Der Geheimnisvolle Eremit
die Stärke des Gegners zur Kenntnis nahmen. Die Diener waren hinter ihr herausgekommen, der Gemeindepriester stand neben ihr. Hier und heute würde nichts weiter geschehen. Später vielleicht, wenn Richard Ludel sicher unter der Erde war und sie der Trauergesellschaft ihre Gastfreundschaft anbot, würde sie den ersten Zug wagen. Der Erbe konnte an diesem wichtigen Tag kaum ständig außer Reichweite seiner Großmutter gehalten werden.
Die Begräbnisfeier für Richard Ludel verlief wie vorgesehen.
Bruder Cadfael nutzte die Zeit, um den ganzen Haushalt des Verstorbenen zu begutachten, von John von Longwood bis zum jüngsten leibeigenen Hirten. Alles sprach dafür, daß der Besitz unter Johns Leitung aufgeblüht war, und alle Männer waren mit ihrer Stellung zufrieden. Hugh würde gut daran tun, alles zu belassen, wie es war. Auch einige Nachbarn waren anwesend, darunter Fulke Astley, der mit wachsamem Auge einschätzte, was er selbst zu gewinnen hatte, falls die versprochene Ehe tatsächlich zustande kam. Cadfael war ihm ein oder zweimal in Shrewsbury begegnet. Er war ein ungehobelter, überheblicher Mann von Ende vierzig, der langsam fett wurde und sich schwerfällig bewegte. Ganz gewiß war er kein ebenbürtiger Partner für die ruhelose, aktive und temperamentvolle Frau, die mit grimmigem Gesicht über der Bahre ihres Sohnes stand.
Richard war bei ihr, und sie hatte mehr besitzergreifend als beschützend eine Hand auf seine Schulter gelegt. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und sah mit ernstem Gesicht zu, wie das Grab seines Vaters geschlossen wurde. Eine Nachricht über einen Tod ist eine Sache, seine Gegenwart ist eine ganz andere. Bis zu diesem Augenblick hatte Richard noch nicht die Endgültigkeit dieses Verlustes und seine Bedeutung verstanden. Die großmütterliche Hand wurde nicht von der Schulter genommen, als der Trauerzug langsam zum Herrenhaus zurückkehrte und der Leichenschmaus in der Halle begann. Die langen, schlanken, nicht mehr jungen Finger hielten ständig einen Zipfel des besten Rocks des Jungen fest.
Dionisia steuerte ihn zwischen Gästen und Nachbarn vor sich her und stellte ihn mit etwas übertriebenem Nachdruck als den Herrn des Hauses und als Hauptperson bei der Trauerfeier seines Vaters vor. Nun, das konnte nicht schaden. Richard war sich seiner Stellung sehr wohl bewußt und würde sich jede Beschneidung seiner Privilegien verbitten.
Bruder Paul sah allerdings einigermaßen besorgt zu und erklärte Cadfael flüsternd, daß man den Jungen am besten wieder fortschaffen müsse, bevor die Gäste sich verabschiedeten, weil man ihn sonst aus Mangel an Zeugen nicht mehr herausbekommen könne. Solange der Priester und einige andere Fremde noch anwesend waren, konnte der Junge kaum mit Gewalt zurückgehalten werden.
Cadfael hatte vor allem die Teilnehmer an der Gesellschaft beobachtet, die ihm nicht oder kaum bekannt waren. Da gab es zwei grau gewandete Mönche aus dem Kluniazenserhaus von Buildwas, das ein paar Meilen weiter flußab lag und dem sich Ludel gelegentlich als großzügiger Gönner erwiesen hatte. Bei ihnen war eine Person, die sich bescheiden im Hintergrund hielt und weit schwieriger einzuordnen war. Er trug ein mönchisches Gewand, tiefbraun oder schwarz und an den Säumen recht abgestoßen, doch unter der Kapuze war sein Kopf ungeschoren, und ein Lichtfunke fing sich in zwei oder drei Metallscheiben an der Schulter, die aussahen wie Medaillen mehrerer Pilgerschaften. Vielleicht ein Wanderbruder, der sich den Mönchen anschließen wollte. Das Kloster von Buildwas war vor mehr als vierzig Jahren von Roger de Clinton, dem Bischof von Lichfield, gegründet worden. Diese drei waren sicher gute, unparteiische Beobachter. Vor so hochstehenden Gästen konnte es keine Gewalt geben.
Bruder Paul wandte sich höflich an Dionisia, um sich diskret zu verabschieden und seinen Schutzbefohlenen mit sich zu nehmen, doch die Dame nahm ihm mit einem kurzen, stählernen Blick den Wind aus den Segeln und sagte mit täuschend süßer Stimme: »Bruder, erfüllt mir die Bitte und laßt mir Richard über Nacht hier. Er hatte einen anstrengenden Tag und wird müde sein. Er sollte nicht vor morgen früh abreisen.«
Doch sie sagte nicht, daß sie ihn am Morgen zurückschicken werde, und ihre Hand hielt nach wie vor Richards Schulter. Sie hatte laut genug gesprochen, um von allen gehört zu werden – eine aufmerksame, mütterliche Frau, die sich um ihren Jüngsten sorgt.
»Madam«, sagte
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