Der Geheimnisvolle Eremit
Bruder Paul, das Beste aus seiner ungünstigen Lage machend, »ich wollte Euch gerade sagen, daß wir aufbrechen müssen. Ich habe nicht die Erlaubnis, Richard hier bei Euch zu lassen, und wir werden zur Vesper zurückerwartet. Ich bitte Euch um Verzeihung.«
Die Dame lächelte zuckersüß, doch ihre Augen waren scharf und kalt wie Messerklingen. Sie nahm einen zweiten Anlauf, wahrscheinlich eher, um ihre Position bei den aufmerksam zuhörenden Gästen zu festigen, als daß sie in diesem Augenblick etwas zu erreichen hoffte. Denn sie wußte, daß sie angesichts der Umstände keine Aussicht darauf hatte.
»Abt Radulfus würde gewiß meinen Wunsch verstehen, das Kind noch einen Tag bei mir zu haben. Er ist mein Fleisch und Blut, der einzige, der mir geblieben ist, und ich habe ihn in den letzten Jahren so selten gesehen. Ihr laßt mich enttäuscht und traurig zurück, wenn Ihr ihn mir so bald schon wieder fortnehmt.«
»Madam«, antwortete Bruder Paul fest, aber unbehaglich, »ich bedaure wirklich, Eurem Wunsch nicht entsprechen zu können, aber ich habe keine Wahl. Ich muß meinem Abt gehorchen und Richard vor dem Abend mit mir zurückbringen.
Komm, Richard, wir müssen gehen.«
Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen, und war wohl in Versuchung, trotz der Gäste einen weiteren Vorstoß zu machen, doch sie besann sich. Dies war nicht der Augenblick, sich ins Unrecht zu setzen; vielmehr mußte sie Mitgefühl erwecken. Sie öffnete die Hand, und Richard schlich unsicher zu Paul.
»Sagt Eurem Abt«, erklärte Dionisia, während sie ihn mit Blicken durchbohrte, obwohl ihre Stimme immer noch sanft und süß klang, »daß ich ihn bald aufsuchen möchte.«
»Madam, das will ich gern ausrichten«, erwiderte Bruder Paul.
Und sie hielt Wort. Schon am nächsten Tag ritt sie in die Enklave der Abtei ein, unter Geleitschutz und mit ihrer besten, beeindruckendsten Kleidung angetan, um den Abt um eine Audienz zu bitten. Sie blieb fast eine Stunde mit ihm in Klausur und kam dann voll kalter Wut wieder heraus. Wie ein Donnerwetter stürmte sie über den großen Hof, trieb unschuldige Novizen wie braune Blätter auseinander und ritt mit einer Geschwindigkeit nach Hause, die ihrer ruhigen Stute überhaupt nicht zusagte, während die Knechte stumm und ängstlich zurückfielen.
»Da geht die Dame hin, die es gewohnt ist, ihren Willen durchzusetzen«, bemerkte Bruder Anselm. »Aber diesmal, denke ich, hat sie ihren Widerpart gefunden.«
»Aber wir werden noch von ihr hören«, meinte Bruder Cadfael trocken, der zusah, wie sich hinter ihr der Staub wieder legte.
»Ich stelle ihren Willen nicht in Frage«, stimmte Anselm zu, »aber was kann sie tun?«
»Das«, sagte Cadfael und erregte damit einige Neugier bei dem anderen Bruder, »werden wir zweifellos bald sehen.«
Sie mußten nur zwei Tage warten. Der gesetzeskundige Schreiber der Frau Dionisia meldete sich ordentlich im Kapitel an und bat um Gehör. Er war ein älterer, magerer Mann, sauber und ordentlich gekleidet und anscheinend von leicht entflammbarem Gemüt. Er stürmte mit einem Bündel Pergamente unter dem Arm ins Kapitelhaus und wandte sich in steifer, vorwurfsvoller Würde, mehr besorgt als erzürnt, an die Versammlung. Er gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, wie ein gelehrter und gebildeter Kirchenmann wie der Abt, dessen Rechtschaffenheit und Wohlwollen außer Frage standen, die Kraft der Blutsbande verleugnen und sich weigern könne, Richard Ludel in die Obhut und liebevolle Pflege seiner einzigen überlebenden Verwandten zu überantworten, besonders da diese jetzt ihres letzten männlichen Verwandten beraubt und mehr als bereit sei, ihrem Enkelsohn in seiner neuen Rolle als Herr zu helfen, ihn anzuleiten und zu beraten.
Großmutter wie Kind werde ein großer Schmerz zugefügt, indem ihnen ihr natürliches Bedürfnis und der Ausdruck ihrer gegenseitigen Zuneigung versagt werde. Und abermals brachte der Schreiber die feierliche Bitte vor, daß dieser Fehler korrigiert und Richard Ludel mit ihm nach Eaton zurückgeschickt werde.
Abt Radulfus saß geduldig und mit unbewegtem Gesicht auf seinem Stuhl und hörte höflich die einstudierte Ansprache bis zu Ende an. »Ich danke Euch für die Botschaft«, sagte er freundlich, »sie wurde wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Doch kann ich Euch keine andere Antwort geben als Eurer Herrin selbst. Richard Ludel, der jetzt tot ist, übertrug mir die Sorge für seinen Sohn durch ein Schriftstück, das unter
Weitere Kostenlose Bücher