Der Geheimnisvolle Eremit
Zeugen aufgesetzt wurde. Ich übernahm diese Pflicht, und ich kann mich ihr jetzt nicht entziehen. Es war der Wunsch des Vaters, daß der Sohn hier erzogen werde, bis er das Mannesalter erreicht und sein Leben und seine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen kann. Das versprach ich, und mein Versprechen werde ich halten. Der Tod des Vaters macht meine Verpflichtung nur um so heiliger und bindender. Sagt dies Eurer Herrin.«
»Mein Herr«, antwortete der Schreiber, der offenbar nichts anderes erwartet hatte und sofort bereit war, den nächsten Schritt zu tun, »angesichts der veränderten Umstände kann ein solches Dokument nicht das einzige Argument sein, das vor einem Gerichtshof Gültigkeit hat. Die Richter des Königs würden gewiß die Bitte einer hochstehenden Dame anhören, die verwitwet ist und jetzt auch noch ihren Sohn verloren hat, die zudem ohne weiteres in der Lage ist, ihrem Enkelkind jeden Wunsch zu erfüllen, abgesehen von dem ganz natürlichen Bedürfnis nach seiner Gegenwart. Meine Herrin wünscht Euch zu informieren, daß sie Klage erheben wird, um ihn zurückzubekommen, falls Ihr den Jungen nicht herausgebt.«
»Ich kann ihre Absicht nur billigen«, erwiderte der Abt heiter.
»Eine Entscheidung vor einem Gerichtshof des Königs muß für uns beide befriedigend sein, da sie uns die Qual der Wahl erspart. Sagt ihr dies und sagt ihr weiter, daß ich die Verhandlung voller Zuversicht erwarte. Doch bis ein Urteil gesprochen wird, muß ich halten, was ich geschworen habe.
Ich bin froh«, fügte er mit einem spröden, leisen Lächeln hinzu, »daß wir in diesem Punkt übereinstimmen.«
Der Schreiber konnte nichts tun, als die unerwartet freundliche und nachgiebige Antwort zu nehmen, wie sie war, und sich so aufrecht wie möglich zurückzuziehen. Die Brüder regten sich neugierig und verwundert auf ihren Stühlen im Kapitelsaal, doch Abt Radulfus brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Erst als die Brüder wieder in den großen Hof traten und sich ihren Arbeiten zuwandten, wurden Kommentare und Spekulationen offen ausgedrückt.
»War es denn klug, sie auch noch dazu aufzustacheln?« meinte Bruder Edmund nachdenklich, der mit Cadfael zur Krankenstation hinüberging. »Was, wenn sie wirklich Klage erhebt? Ein Richter könnte ohne weiteres die Partei einer einsamen Dame ergreifen, die ihr Enkelkind bei sich haben will.«
»Nur die Ruhe«, sagte Cadfael gelassen. »Das war eine leere Drohung. Sie weiß so gut wie jeder andere, daß selbst in den besten Zeiten die Arbeit der Gerichte langsam und teuer ist, und dies sind nicht die besten Zeiten, da der König weit entfernt und mit dringenderen Angelegenheiten beschäftigt ist, zumal die Hälfte seines Königreichs ohnehin über keine Gerichtsbarkeit mehr verfügt. Nein, sie hoffte nur, den Abt umzustimmen und ihm Angst einzujagen. Da ist sie aber an den Falschen geraten. Er weiß, daß sie nicht die Absicht hat, Klage zu erheben. Viel eher wird sie das Gesetz in die eigenen Hände nehmen und versuchen, den Jungen zu stehlen. Und wenn sie ihn einmal hat, braucht es die langsamen Gesetze oder rasches Handeln, um ihn zurückzuholen, und Gewalt kommt für den Abt weit weniger in Frage als für sie.«
»Bleibt nur zu hoffen«, erwiderte Bruder Edmund, der diese Vorstellung entsetzlich fand, »daß sie noch nicht all ihre Überzeugungsmöglichkeiten aufgeboten hat, wenn das letzte Mittel denn die Gewalt sein soll.«
Niemand konnte ergründen, woher der junge Richard so genau über jede Drehung und Wendung im Streit um seine Zukunft Bescheid wußte. Er konnte die Ereignisse im Kapitelsaal nicht belauscht haben, und bei den täglichen Versammlungen waren auch keine Novizen zugegen; und unter den Brüdern gab es keinen, der leichtfertig mit dem betroffenen Kind geschwätzt hätte. Dennoch war klar, daß Richard nur zu genau wußte, was vorging, und sogar heimlich Gefallen daran fand. Bosheit machte das Leben interessant, und da er sich innerhalb der Enklave sicherfühlte vor wirklichen Gefahren, konnte er die Tatsache genießen, daß andere um ihn kämpften.
»Er beobachtet das Kommen und Gehen der Boten von Eaton«, sagte Bruder Paul, als er Cadfael im Frieden des Kräutergartens seine unguten Vorahnungen anvertraute. »Und er ist klug genug, um zu begreifen, was es bedeutet. Er hat genau verstanden, was bei der Beerdigung seines Vaters vorging. Manchmal wünschte ich um seinetwillen, er wäre weniger scharfsinnig.«
»Ach, es ist doch gut, daß er ein
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