Der Geheimnisvolle Eremit
helles Licht ist«, widersprach Cadfael behaglich. »Denn die wissenden Unschuldigen vermeiden die Fallgruben. Und die Dame hat sich seit zehn Tagen nicht mehr gerührt. Vielleicht hat sie resigniert und den Kampf aufgegeben.« Doch davon war er alles andere als überzeugt. Frau Dionisia war nicht daran gewöhnt, einfach abgewiesen zu werden.
»Das mag sein«, stimmte Paul hoffnungsvoll zu, »denn wie ich hörte, hat sie einen Wanderbruder bei sich aufgenommen und für ihn die alte Einsiedelei im Wald einrichten lassen. Er soll täglich für die Seele ihres Sohnes beten. Eilmund erzählte uns davon, als er unseren Anteil am Wildbret brachte. Wir haben den Mann bei der Beerdigung gesehen, Cadfael. Er war mit zwei Brüdern aus Buildwas da. Er hatte eine Woche bei ihnen gewohnt, und sie konnten nur Gutes über ihn berichten.«
Cadfael richtete sich mit einem Grunzen zwischen seinen Minzepflanzen auf, die jetzt, Ende Oktober, drahtig und dürr geworden waren. »Der Mann, der die Pilgermuschel trug? Und die Medaille von St. James? Ja, ich erinnere mich an ihn. Also will er sich bei uns niederlassen? Und er nimmt lieber die Klause und ein kleines Stück Garten im Wald statt die graue Kutte in Buildwas! Ich fühlte mich nie zu einem so einsamen Leben hingezogen, aber ich kenne einige, die auf diese Weise besser denken und beten können. Die Klause ist schon lange unbewohnt.«
Er kannte den Ort, obwohl er nur selten dort vorbeikam, denn der Förster der Abtei strotzte vor Gesundheit und brauchte nur selten Kräuterarzneien. Die Einsiedelei, die schon seit vielen Jahren leer stand, lag in einem dicht bewaldeten Tal. Es war eine aus Steinen erbaute Hütte mit einem Stück Land, einst eingezäunt und bestellt, jetzt überwuchert und verwildert. Dort in der Nähe verlief die Grenze zwischen dem Waldland der Abtei und den Ländereien von Eaton, und die Klause stand auf einem Flecken, wo das Land der Ludels ein Stück ins Nachbargebiet hineinragte, dicht an einer vom Förster aufgebauten Schonung. »Dort wird er es ruhig haben, wenn er bleiben will«, meinte Cadfael. »Aber wie ist nun sein Name?«
»Man nennt ihn Cuthred. Einen heiligen Nachbarn zu haben, das ist nicht schlecht, und anscheinend kommen bereits einige mit ihren Sorgen zu ihm. Vielleicht«, erklärte Bruder Paul optimistisch, »hat er die Dame gezähmt. Er muß großen Einfluß auf sie haben, denn sonst hätte sie ihn nie zum Bleiben eingeladen. Und seit zehn Tagen haben wir nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht haben wir es ihm zu verdanken.«
Und wirklich, während die milden Oktobertage fließend ineinander übergingen, von trübem, dunstigem Morgengrauen über helle, aber verschleierte Mittagszeiten zu feuchtem, zauberhaft stillem grünem Zwielicht, schien es, als sei der Kampf um den jungen Richard eingeschlafen. Vielleicht hatte es sich Frau Dionisia überlegt, verzichtete auf die Anrufung des Gerichts und ergab sich in das Unvermeidliche. Durch ihren Gemeindepriester schickte sie sogar ein Geldgeschenk, damit bei der Messe in der Marienkapelle für die Seele ihres Sohnes gebetet werde, und diese Geste konnte nur als Versuch einer Versöhnung gedeutet werden. So sah es jedenfalls Bruder Francis, der neue Kirchdiener des Marienaltars.
»Vater Andrew sagte mir«, berichtete er, als der Besucher sich verabschiedet hatte, »daß die Dame, seit die Brüder aus Buildwas diesen Cuthred in ihr Haus brachten, große Stücke auf seinen Rat hält und sich stets nach ihm richtet. Der Mann hat, wie man hört, gelebt wie ein Heiliger. Man sagt, er habe auf die alte Art sehr strenge Gelübde abgelegt und wolle nie wieder seine Klause und seinen Garten verlassen. Doch wenn jemand ihn bittet, verweigert er niemals Hilfe oder Gebete. Vater Andrew berichtet nur Gutes über ihn. Die Einsiedelei ist nichts für uns«, meinte Bruder Francis zum Schluß, »aber es ist nicht schlecht, einen heiligen Mann in der Nähe oder auf einem Nachbargut zu haben. Er kann nur ein Segen sein.«
So dachten alle im Land, denn die Gegenwart eines heiligen Mannes warf auch auf das Gut von Eaton etwas Glanz, und die einzige Kritik über Cuthred, die Cadfael je zu Ohren kam, war die, daß er viel zu bescheiden sei und sich sehr bald schon allzu überschwengliche Lobpreisungen seiner Person verbeten habe. Welche Segnungen auch immer er den Menschen brachte, ob er durch Gebete eine drohende Viehseuche verhinderte, nachdem ein Tier aus Dionisias Herde erkrankt war, ob er durch einen Jungen vor
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