Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
die natürliche Wissbegier und den Eifer der Kleinen. In Salkau hatte sie zuletzt in der Sonntagsschule unterrichten dürfen, diese Erfahrung kam ihr jetzt zugute. Allerdings musste sie hier auf Zionshill den Kindern erst einmal Lesen und Schreiben beibringen, und das war in einer fremden Sprache gar nicht so leicht. Die Unterrichtssprache war Englisch – auch für die Siedlerkinder, die zusätzlich vom Diakon aus Neu Klemzig zweimal wöchentlich deutschen Bibelunterricht erhielten. Englische Lehrbücher gab es nicht, denn die, so hatte Gottfried verlauten lassen, konnte sich Zionshill nicht leisten. So musste sich Helene mit der großen Schiefertafel begnügen, und die Kleinen versuchten mit vor Anstrengung zusammengepressten Lippen, die noch unvertrauten Linien und Kurven mit weißer Kreide auf ihre eigenen Täfelchen zu übertragen.
Die Schule bestand aus einem einzigen großen Raum, der von einer umlaufenden Veranda eingefasst wurde. Der Boden war nichts weiter als festgestampfte Erde, das strohgedeckte Dach wies so viele Löcher auf, dass Helene Eimer im Schulraum verteilen musste, wenn es zu regnen begann. Die kleineren Kinder wurden draußen auf der Veranda unterrichtet und die größeren drinnen. Es gab nicht genügend Tische und Stühle, und eine Hälfte der Kinder musste auf dem Boden hocken, während die andere auf den Bänken mit Pult saß.
Das Erste, was Helene änderte, als sie mit dem Unterricht auf Zionshill anfing, war diese Sitzordnung, die sie als zutiefst ungerecht empfand.
Herr Tannhaus, ein deutscher Lehrer aus Adelaide, der sie in ihre Arbeit eingeführt hatte und sich in der ersten Zeit um den Unterricht der Kleineren kümmerte, hatte ihr erklärt, die älteren Schüler, die regelmäßiger als die anderen zum Unterricht erschienen, hätten sich dadurch ein Anrecht auf ein eigenes Pult erworben. Wer weniger oft in der Schule auftauchte, musste mit dem Erdboden vorliebnehmen. Helene wusste noch nicht viel über die einheimischen Kinder und auch nicht, warum vor allem die jüngeren Schüler so häufig schwänzten. Aber sie dachte sich, dass es wohl kaum die Schuld der Kleinen sein konnte. Wenn sie das Leuchten der Kinderaugen nicht täuschte, waren diese Kinder mehr als froh, etwas lernen zu dürfen. Welche Gründe auch immer dazu führten, dass diese Knirpse nicht mit der geforderten Regelmäßigkeit im Schulgebäude auftauchten, es war schwerlich ihr eigenes Vergehen. Und so entschied sich Helene für eine Art rotierendes System: Ab sofort hatte kein Schulkind mehr einen Anspruch auf ein eigenes Pult, jeder Schüler saß nach einem detaillierten Plan, den Helene in langen Nächten mühselig ausgearbeitet hatte, mal im Staub, mal auf der begehrten Holzbank. Helene konnte an den strahlenden Kindergesichtern ablesen, dass sie über die Entscheidung ihrer Lehrerin glücklich waren. Kinder haben noch diesen untrüglichen Gerechtigkeitssinn, dachte Helene zufrieden.
Seltsam war nur, dass die Kinder dennoch nicht regelmäßiger zum Unterricht erschienen. Wenn also selbst das Pult, das den Kindern offensichtlich so viel bedeutete, sie nicht dazu brachte, jeden Tag zur Schule zu kommen, musste es dafür Gründe geben. Helene war entschlossen, herauszufinden, was die Kinder von der Schule abhielt. Doch noch bevor sie dazu eine Gelegenheit hatte, konfrontierte sie eines Morgens Herrn Tannhaus mit ihrer neuen Sitzordnung, der ganz und gar nicht damit einverstanden war.
»Was machen Sie da nur, Helene? Ist Ihnen klar, dass Sie ein jahrelang erprobtes System grundlos auseinandernehmen – und dass Sie damit unter den Schülern nichts als Unruhe und Unsicherheit schaffen? Kein Kind hat mehr Grund, jeden Morgen pünktlich zur Schule zu erscheinen, wenn nun jedes Kind irgendwann einen Pultplatz haben kann. Sie sind doch gar keine ausgebildete Lehrerin, und wenn Sie nicht von selbst einsehen, dass Sie einen schwerwiegenden Fehler begangen haben, werde ich mit Gottfried sprechen müssen, der sicherlich meine Einschätzung teilen wird.«
Helene versuchte, ruhig zu bleiben, doch innerlich war sie aufgewühlt. Gottfried. Immer wieder Gottfried. Sie hasste es, dass ihr Schicksal in der neuen Heimat so eng mit diesem Mann verknüpft war. Sie konnte ihn nicht ausstehen. Da, jetzt war es heraus, sie hatte es sich ein für alle Mal eingestanden: Sie konnte Gottfried nicht ausstehen! Genau so war es.
Helene fühlte sich erleichtert, endlich war sie ehrlich mit sich selbst. Die widerwärtige Art, wie Gottfried
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