Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
sie von der Seite ansah, wenn er glaubte, sie bemerkte es nicht. Oder wie er ihr viel zu nahe kam, wenn er in seinem Flüsterton auf sie einredete. Und wie er sie in all ihren Tätigkeiten für die Gemeinde ständig kontrollieren musste, so als wäre sie eine Grundschülerin. Dabei kam sie in Australien viel besser zurecht als er. Sie war beliebt, und zwar nicht nur bei ihren Schülern. Sie merkte das daran, dass die Neu Klemziger und auch die Siedler vom Zionshill nicht zögerten, sie um Hilfe zu bitten, wenn sie glaubten, Helene könnte etwas für sie tun. Bei Gottfried war das anders. An ihn wendeten sich die einfachen Gemeindemitglieder nur, wenn es unumgänglich war. Zum Beispiel in Angelegenheiten, bei denen sie ihn als neuen Leiter der Mission nicht ignorieren durften. Gottfried schien diese Zurückhaltung in der Gemeinde ihm gegenüber nicht einmal zu bemerken.
Meist saß er über Bücher gebeugt an seinem Schreibtisch, wo er lange Zahlenreihen addierte oder eifrig in sein schwarzes Büchlein schrieb, das er immer bei sich trug. Wenn sie sich ihm näherte, schloss er das Buch schnell und sah sie strafend an. Sie war sich über Gottfrieds Ziele nicht im Klaren, hielt es aber durchaus für möglich, dass er ganz andere Absichten als die offensichtlichen hegte. Es war nicht leicht, aus ihm schlau zu werden. Helene wollte auf der Hut sein; sie ahnte, dass sie mit ungewohnten Mitteln kämpfen müsste, falls es zu einem Zerwürfnis mit Gottfried kommen sollte. Keinesfalls würde sie ihre Kinder im Stich lassen.
Jetzt aber hatte Helene es zunächst einmal mit Tannhaus zu tun. Der alte Schulmeister hatte völlig recht, sie war keine ausgebildete Lehrerin, aber sie konnte beobachten, welche Fortschritte ihre Schüler machten, sah täglich mit eigenen Augen, wie ihre Schutzbefohlenen schreiben und lesen lernten. Und das war es doch, was sie als Lehrerin zu leisten hatte.
Wahrscheinlich, so überlegte Helene weiter, war es zu diesem Zeitpunkt angebracht, taktisch zu handeln. Und so warf sie dem alten Tannhaus versuchsweise so etwas wie einen lasziven Blick zu. Sie war sich anfangs gar nicht sicher, ob sie dazu überhaupt imstande wäre, denn, und das schwor sie bei Gott, so hatte sie im Leben noch keinen Mann angeschaut. Sie hatte auch gar kein Vorbild im Sinn, das sie für ihre Zwecke hätte kopieren können. Was Helene da an Lehrer Tannhaus ausprobierte, war ein Schuss ins Blaue, gegründet nur auf dem undeutlichen Gefühl, dass Männer, insbesondere die in die Jahre gekommenen, empfänglich für weibliche Blicke sein könnten. Nicht für die gewöhnlichen, alltäglichen Blicke – nein, empfänglich für jene besonderen Augenaufschläge, die so etwas wie ein Versprechen in sich trugen. Worin genau jenes liegen sollte, war Helene selbst nicht ganz klar. Das plötzlich in Tannhaus’ Wangen einschießende Blut zeigte ihr jedoch, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
Innerlich noch über ihren so leicht errungenen Sieg staunend, lächelte sie Tannhaus selbstsicher an, woraufhin dessen Gesichtsfarbe einen noch dunkleren Rotton annahm.
»Oh, Herr Tannhaus, es war mir gar nicht bewusst, dass ich Sie so erzürnt habe. Das tut mir sehr leid! Dabei wollte ich die Kinder doch nur besonders anspornen. Miss Junker, haben mir Joel und Amber neulich erst gesagt, nur ein einziges Mal möchten wir vor Herrn Tannhaus an einem ordentlichen Pult sitzen. Nur damit er weiß, dass wir ordentliche Schüler sind.«
Tannhaus räusperte sich und lockerte seinen Kragen.
»Das weiß ich doch ohnehin, Helene. Was erzählen Sie mir denn da?«
Mochte sich der olle Tannhaus auch sträuben wie ein wilder Hund, den man zum ersten Mal an die Kette legte, Helene wusste längst, dass sie gesiegt hatte. Nun musste sie es nur noch von ihm selbst hören. Also setzte sie, durch ihren ersten Erfolg ermutigt, noch einmal nach:
»Die Kinder schauen zu Ihnen auf, Herr Tannhaus. Sie wollen Ihnen nahe sein. Bitte zerstören Sie ihnen diesen Traum nicht.« Sie hatte ihren Blick noch immer fest auf ihn geheftet, fand immer mehr Gefallen an ihrem Theater.
Tannhaus räusperte sich wieder, sagte dann nur knapp: »Also gut, wenn Sie meinen, probieren wir es aus. Aber ich warne Sie, wenn es nicht klappt und die Kinder rebellieren, spreche ich ein ernstes Wort mit Gottfried über Sie und Ihre äußerst eigenwilligen Methoden.« Damit drehte er sich abrupt um und verließ das Schulhaus schnellen Schritts.
Helene indes dachte noch eine ganze Weile über sich
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