Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
überall dort auf, wo sie bislang allein und unbeaufsichtigt gearbeitet hatte, wie in ihrer winzigen Schreibstube in der Kirche. Erst vorgestern hatte er sie fast zu Tode erschreckt. Sie hatte am Schreibtisch gesessen und ihre täglichen Eintragungen gemacht, als sich plötzlich sein Kopf über ihre Schulter schob und seine Hand über ihren Oberarm strich. Hatte er sich angeschlichen? Sie hatte ihn überhaupt nicht kommen hören. Aber warum sollte er das tun? Sie hatte doch nichts zu verheimlichen.
Gottfried hatte ihren Schrecken weggelacht, es sich dann aber nicht nehmen lassen, ihre letzten Einträge zu den Gemeindesitzungen auf Rechtschreibfehler hin zu überprüfen. Dasselbe tat er bei ihrem Rechnungsbuch. Er rechnete akribisch die Markteinnahmen vom vergangenen Samstag nach.
Pastor Johannes hatte Helene gezeigt, wie sie die Finanzen zu verbuchen hatte. Seit dem letzten Monat durfte sie nun völlig selbständig alle eingehenden und ausgehenden Zahlungen der Gemeinde eintragen. Außerdem hatte sie der Pastor zu den monatlichen Bankgeschäften nach Adelaide mitgenommen. Er wünschte sich, hatte er ihr auf der Hinreise erklärt, dass sie ihm schon bald diese regelmäßige Reise in die Stadt abnahm, damit er seinen eigentlichen Pflichten mehr Zeit widmen konnte.
Als er bemerkte, dass Helene zögerte, weil sie sich der Größe der Aufgabe noch nicht gewachsen fühlte, fasste er sie nur lachend bei den Schultern: »Helene, glauben Sie mir, es gibt nichts, was Sie nicht könnten. Alles, was Sie bis jetzt in Angriff genommen haben, haben Sie verwandelt. Nehmen Sie zum Beispiel mein gutes, altes Rechnungsbuch: Nachdem ich Sie damit verfahren ließ, wie es Ihnen gefiel, erkenne ich es nun kaum mehr wieder.«
Helene blickte ängstlich zu Boden. Jetzt würde sie also für ihren Hochmut abgestraft werden. Sie hatte den Soll- und Habenspalten des Rechnungsbuchs eigenmächtig zwei weitere hinzugefügt. Eine, die sie »das Ziel« und eine andere, die sie »der Weg« nannte. Dort hatte sie eingetragen, was ihrer Meinung nach wirtschaftlich für die Gemeinde erreicht werden und wie das ihres Erachtens nach geschehen könnte. Dabei hatte sie in ihrem Eifer nicht bedacht, dass andere natürlich ihre Bücher prüfen würden. Jetzt befürchtete sie, für ihr eigenmächtiges Handeln getadelt zu werden. Während sie schon nach entschuldigenden Worten suchte, hob Johannes ihr Kinn:
»Was ist denn mit Ihnen? Ihr neues System ist doch phantastisch. Es wird sich für uns alle in barer Münze auszahlen. Es ist großartig, dass sich endlich jemand um unser Geld kümmert. Uns Neu Klemzigern fehlt dafür das Talent.«
»Aber mir doch auch«, rutschte es Helene raus. Sie wollte nicht, dass der Pastor dachte, ihr läge mehr am Materiellen als an der Liebe Gottes. Sie wollte doch nur, dass es allen gutging. Die Gemeinde arbeitete schließlich so hart dafür.
»Eben nicht, Helene, und genau das ist gut für unsere Gemeinde. Ich möchte, dass Sie wissen, wie sehr ich Ihre Unterstützung schätze. Wenn ich es recht bedenke, weiß ich gar nicht, wie ich ohne Sie jemals zurechtgekommen bin.«
Seine blauen Augen lächelten sie an, was ein seltsames Ziehen in ihrem Bauch verursachte. Nach Johannes’ lobenden Worten badete sie geradezu in einem Hochgefühl. Noch eine ganze Woche nach diesem Vorfall schwebte Helene wie auf Wolken.
Zu ihrer Überraschung sah sie am Morgen Anna in der Runde sitzen, als sie die Paulskirche betrat. Sie war froh, dass sie heute nicht die einzige Frau beim Morgengebet sein würde. Es war den Frauen zwar nicht verboten, doch die meisten mussten sich zu dieser frühen Stunde um ihre Kinder und das Vieh kümmern. Anna stand gleich auf und umarmte die Freundin, wie sie es schon getan hatte, als sie Helene zum ersten Mal gesehen hatte. Die junge Frau des Pastors sah müde aus, dunkle Augenringe zeichneten sich auf ihrer blassen Haut ab. Helene erschrak.
»Bist du krank? Du siehst gar nicht gut aus. Stimmt etwas nicht?«
Besorgt betrachtete sie die zartgebaute Freundin. Ein anderer hätte es vielleicht nicht wahrgenommen, doch Helene entging das leichte Zittern nicht, das Annas schmale Lippen umspielte. Helene führte Anna zu ihrem Stuhl zurück, zwang sie mit sachten Händen auf den Sitz.
»Ach, Helene. Ich bin so verzweifelt, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, mein Kind ist …«
An dieser Stelle brach Anna in ein Schluchzen aus, das alle Anwesenden zum Schweigen brachte.
»Schon gut«, wehrte sie jede
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