Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
Morgengebet nicht verpassen wollte. Hastig versuchte sie, ihr widerspenstiges Haar zu einem Knoten zu drehen und mit Haarnadeln festzustecken, die sie sich zuvor in den Mundwinkel geklemmt hatte und nun einzeln herauszog. Sie überprüfte mit beiden Händen, ob der Dutt saß, und flog auch schon aus der Tür ins Treppenhaus, wo Gottfried bereits auf sie wartete.
»Guten Morgen, mein Kind. Hast du etwa zu schön geträumt, dass du nicht rechtzeitig aufwachen wolltest?«
Er lächelte dünn und ließ ihr den Vortritt zur Treppe. Helene errötete, doch dann machte sie sich klar, dass Gottfried von ihren Träumen gar nichts wissen konnte, sondern dass er nur diese ungeheuerlich anstrengende Art hatte, blumig zu umschreiben, was ihm missfiel. Wenn er doch nur ein einziges Mal geradeheraus sagen könnte, was ihn an ihr störte! So musste sie immer erst raten, um was es eigentlich ging. Doch heute war sie zu müde und erschöpft, um auf seine Marotten einzugehen. Wenn er wollte, dass sie sich bei ihm entschuldigte, dann sollte er es gefälligst sagen.
»Ja danke«, erwiderte sie deshalb nur, »ich habe sehr gut geschlafen. Und Sie?«
Endlich, sie hatte sich doch tatsächlich getraut, ihrem Aufpasser Paroli zu bieten. Als sie allerdings die ärgerliche Furche zwischen seinen Brauen sah, fragte sie sich, ob sie nicht zu weit gegangen war. Gottfried hielt ihr wortlos die Haustür auf, und sie traten auf die noch dunkle Hauptstraße. Die Vögel waren schon erwacht, erzählten einander lautstark von den Erlebnissen der Nacht. Helene liebte diese nun schon vertrauten Stimmen.
Sie war jetzt seit fünf Monaten in Neu Klemzig und konnte beim besten Willen nicht sagen, wo all die Zeit geblieben war. Sie hatte so viel in der Gemeinde zu tun, dass sie manchmal nicht recht wusste, wo ihr der Kopf stand. Jeden Tag begann sie in aller Herrgottsfrühe mit ihrer Arbeit und fiel erst spät am Abend todmüde in ihre Kissen. Außer an den Sonntagen, an denen nicht gehastet werden durfte, hatte sie kaum einen müßigen Moment. Es lag ihr fern, sich darüber zu beschweren, sie hatte es ja so gewollt. Sie mochte es, gebraucht zu werden. So sehr, dass sie nie nein sagen konnte, wenn Johannes oder die Kirchenälteren sie um einen Gefallen baten. Mehr noch, sobald sie das Gefühl hatte, eine Aufgabe einigermaßen im Griff zu haben, schielte sie schon selbst nach der nächsten Herausforderung.
Helenes Alltag begann in der Regel wie heute mit dem Morgengebet, zu dem sich die Kirchenvorderen um sechs in der Kirche trafen. Es war nicht nur die beste Gelegenheit, um vor den Aufgaben und dem Lärm des Tages ungestört beten zu können, sondern auch, um gemeinsam die Angelegenheiten der Gemeinde zu besprechen. Für Helene war das allmorgendliche Gebet eine wunderbare Möglichkeit gewesen, sich mit ihren Pflichten als Gemeindesekretärin vertraut zu machen und gleichzeitig die Älteren kennenzulernen. In dieser vertrauten Runde offenbarten die Männer einander ihr Innerstes, denn sie beteten laut zu Gott. Jeder konnte hören, was dem anderen auf der Seele brannte. Helene konnte über diese ungewöhnliche Offenheit nur staunen, denn die Männer machten sich damit verwundbar, doch es sah so aus, als kümmerte es sie nicht weiter.
Mit der Zeit stellte Helene jedoch feine Unterschiede fest. Sie bemerkte, dass lange nicht jeder gleich freimütig in seinem Gebet war wie der Nachbar.
Helene warf einen Blick auf Gottfried, der immer noch schweigend neben ihr ging; die erste Dämmerung hatte ihn in graue Schatten getaucht. Gottfried zum Beispiel hielt sich im Gebet bedeckt, lauschte lieber, als dass er sprach. Er lehnte sich dann zurück und legte seine Hände in den Schoß, als wollte er möglichst gar nicht auffallen. Wenn dann die Reihe an ihm war, flüchtete er sich in seiner Zwiesprache mit Gott in Allgemeinplätze, sprach vom Wohl der Gemeinde, das ihm am Herzen läge, und von der spirituellen Stärkung, die er sich für Neu Klemzig erhoffe. Das eine oder andere Mal hatte sie gesehen, wie er eine Notiz in sein kleines, schwarzes Buch kritzelte, um es dann schnell wieder in der Innentasche seines Rocks verschwinden zu lassen. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er nicht mit offenen Karten spielte. Vielleicht war sie aber auch nur überempfindlich, was Gottfried anbelangte, denn seit zwei, drei Wochen wich er kaum mehr von ihrer Seite. Sie empfand seine Gegenwart als geradezu erdrückend. Neuerdings tauchte er
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