Der geheimnisvolle Gentleman
heutigen Tag waren die Gebote ihrer Mutter sehr, sehr schwer zu befolgen gewesen: Deine Haare dürfen sich nie aus der Frisur lösen. Du musst deine Füße unter deinem Kleid verstecken, oder man wird dich für ein Milchmädchen halten. Du darfst nicht laut oder lang anhaltend lachen. Noch besser, lache einfach gar nicht. Lächle, aber zeig dabei nicht deine Zähne. Du lächelst viel zu breit. Du darfst nicht größer sein als die Herren, aber steh gerade!
Die Regeln und Gebote ihrer Mutter spielten jetzt keine Rolle mehr. Olivia hingegen war sich ziemlich sicher, dass ihr Bräutigam – ähm, Ehemann! – seine eigenen Regeln hatte, die vielleicht noch schwerer zu befolgen waren als die von Lady Cheltenham. Regeln und Erwartungen.
Sie war noch nie jemand gewesen, der sich leicht ins Bockshorn hatte jagen lassen. Olivia empfand einen gewissen Groll, denn dieser Unhold hatte ihr noch nicht einmal den Hof gemacht!
Seine kostspieligen und erlesenen Geschenke waren jedoch regelmäßig gekommen. Olivia hätte allerdings ein wenig Konversation vorgezogen.
Sie hatte ihren Bräutigam nur zweimal gesehen. Das erste Mal war diese katastrophale Begegnung auf, oder vielmehr unter, der Brücke gewesen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie am eigenen Leib erfahren, dass er hilfsbereit war, so groß wie ein Brückenpfeiler, eingebildet, möglicherweise nicht ohne Grund, und dass er gerne Brüste begutachtete.
Das traf auf sehr viele Männer der Gesellschaft zu.
Zum zweiten Mal hatte sie ihn am nächsten Tag gesehen, als er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte. Wenn sie nicht zufälligerweise zur selben Zeit von einer ihrer schier endlosen nachmittäglichen Besuchsrunden mit Mutter nach
Hause gekommen wäre und die beiden Verschwörer dabei beobachtet hätte, wie sie sich in der Empfangshalle die Hand gaben, als besiegelten sie einen Pferdehandel, hätte sie wahrscheinlich bis zu ihrem Hochzeitstag nichts davon erfahren.
Lord Greenleigh war die Situation noch nicht einmal peinlich gewesen. Er hatte sich nur kurz über ihrer Hand verneigt und gesagt, er sei froh darüber, die Zustimmung ihres Vaters erhalten zu haben. Dann war er aus der Tür hinausgerauscht, und sie hatte ihm mit offenem Mund hinterhergestarrt.
Aus dieser Begegnung und den folgenden zwei Wochen luxuriöser Missachtung folgerte sie, dass er arrogant und gedankenlos war und daran gewöhnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzten. Das traf auf viele Männer zu, die ihre Mutter versucht hatte, ihr aufzudrängen, seit sie in London in die Gesellschaft eingeführt worden war wie ein entführter Seemann auf einem fremden Schiff.
Heute war sie für ihn zurechtgemacht worden wie eine verschleierte Opfergabe. Es war ihr kaum möglich gewesen, irgendetwas durch den kunstvoll verzierten Spitzenschleier zu sehen, und während der Trauungszeremonie musste sie sich die meiste Zeit sehr zusammennehmen, um sich nicht zu übergeben. Beim anschließenden Hochzeitsfrühstück war ihr frischgebackener Ehemann ihr gegenüber von geradezu aufreizender Gleichgültigkeit gewesen und hatte seine Aufmerksamkeit seinem Sitznachbarn geschenkt, einem Kerl, der fast so gut aussehend wie Lord Greenleigh war, wenn auch auf eine dunklere und geheimnisvollere Art.
Dadurch hatte sie Lord Greenleighs gute Tischmanieren kennen gelernt und bemerkt, dass er, obwohl er einfach himmlisch roch, dazu neigte, sehr, sehr rüde zu sein.
Sie wusste demnach nicht gerade viel über ihn. Und doch war sie jetzt bis zum Ende ihres Lebens an diesen Mann gebunden. Ihre gesamte Zukunft lag in seinen Händen. Natürlich hatte sie während des Essens, von dem sie kaum einen Bissen angerührt hatte, zur Kenntnis genommen, dass ihr Ehemann
große, wohlgeformte Hände hatte. Tatsächlich besaß er trotz seiner Größe eine gewisse löwenhafte Eleganz, die es ihr schwer machte, den Blick von ihm abzuwenden.
Doch nun verwandelte sich ihre Faszination zusehends in panische Verzweiflung. Konnten sie es nicht einfach hinter sich bringen? Sicher war diese Warterei schlimmer als der Akt an sich. Obwohl im Kamin ein Feuer brannte, schlang sie die Arme um sich. Sie fror entsetzlich.
Mit gesenktem Kopf marschierte Olivia vor dem Kamin auf und ab. Sie konnte eine weitere schlechte Eigenschaft auf ihre Liste setzen: Lord Greenleigh neigte dazu, sich zu verspäten.
Dankbar registrierte Olivia, wie ihr Zorn langsam wieder die Oberhand über ihre Furcht gewann.
Dane Calwell, Lord Greenleigh, hatte ein Problem, ein sehr
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