Der geheimnisvolle Gentleman
erwählt zu werden. Die Worte ihrer Mutter hallten in ihrer Erinnerung nach. Außer deiner Abstammung hast du fast nichts, was für dich spricht. Wenn dein Bruder es geschafft hätte, diese entsetzliche Erbin des Schifffahrtsunternehmers Hackerman zu heiraten, lägen die Dinge für uns alle ganz anders. Wenn Walter noch am Leben wäre …
Wenn Walter noch am Leben wäre, wäre Cheltenham gerettet, die Geldtruhen der Familie gefüllt, ihre Eltern zufrieden und Olivia nicht ohne ihren geliebten Bruder. Und ganz sicher wäre sie nicht gezwungen gewesen, den einzigen Heiratsantrag anzunehmen, der ihr gemacht worden war.
Lord Greenleigh ist ein sehr gut aussehender Mann. Und ein ausgesprochen einflussreicher Mann. Lord Greenleigh fing an, ihr auf die Nerven zu gehen.
Olivia war dabei, sich die Haare fürs Zubettgehen zu flechten. Sie würde sich dieses dummen, provokanten Nachthemdes entledigen. Ebenso hätte sie sich das zweite Bad in Rosenwasser, das sie an diesem Tag genommen hatte, sparen können. Es hatte keinen Sinn, auf den Kerl zu warten – ganz offensichtlich würde er nicht kommen. So wie er nicht gekommen war, um ihr den Hof zu machen oder um sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wollte.
Dabei hätte sie nicht im Traum daran gedacht, seinen Antrag abzulehnen. Sie war keine Idiotin. Sie wusste, dass die Familie und alle, die auf Cheltenham von ihr abhängig waren, keine andere Chance hatten als diese Heirat.
Es wäre einfach nett gewesen, wenn er sie gefragt hätte.
Und Vater war keinen Deut besser. Er hatte sie verschachert, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, ob sie den Mann überhaupt mochte. Nein, Vater hatte das Ganze hinter ihrem Rücken arrangiert, als wollte er ein störrisches Pferd verkaufen.
Olivia schlüpfte aus ihrem durchsichtigen Negligee. So ein nutzloses Teil! Es würde nicht einmal einer Spinne als Netz dienen können. Dann griff sie nach den Bändern, die den Ausschnitt ihres noch durchsichtigeren Nachthemdes regulierten.
Ein Geräusch an der Verbindungstür ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. Ihre Empörung wich ihren Ängsten, die sie schon seit einem Monat zu bekämpfen versuchte.
Sie war die Frau eines Fremden. Sie war von einem Mann abhängig, der, nun, der mit ihr tun konnte, was und wie ihm beliebte.
Das konnte alles Mögliche bedeuten. Sie war nicht so behütet aufgewachsen wie einige der jungen Damen, denen sie während des letzten Monats der Ballsaison begegnet war. Sie
war nicht von Gouvernanten betütert worden, und ihre Anstandsdamen waren ein, zwei eher faule Hausmädchen gewesen. Je mehr Jahre auf Cheltenham ins Land gingen, umso sicherer waren sich die Bediensteten gewesen, dass Lord und Lady Cheltenham nicht vorhatten, für Olivia eine gute Partie zu suchen. Und sie hatten Recht behalten.
Stattdessen hatten ihre Eltern all ihre Hoffnungen in Walter gesetzt, ein Jahr jünger als Olivia und um einiges vielversprechender, da er sie an Attraktivität und Charme eindeutig übertraf. Olivia konnte ihnen deshalb kaum einen Vorwurf machen, denn sie selbst war so vernarrt in ihn gewesen, wie es eine ältere Schwester nur sein kann. Voller Lebenslust und Humor war er gewesen, aber nicht so leichtsinnig wie einige andere verwöhnte junge Lords.
Wenn Walt und ihre Eltern sich mal nicht auf Cheltenham aufhielten, schien der gesamte Landsitz in eine Art Winterschlaf zu fallen. Meistens hatte sich Olivia die Zeit damit vertrieben, sich um das Wohl derjenigen zu kümmern, die von ihrer Familie abhängig waren. Das Dorf Cheltenham hatte wie der Landsitz unter der jahrelangen Entbehrung gelitten, und Olivia tat, was sie konnte, um die Not der Bevölkerung zu mildern.
Sie war mindestens so stolz auf ihre »Cheltenham-Familie« wie auf ihre eigene.
Deshalb hast du Lord Greenleigh geheiratet.
Wenn alles gut ging, würden binnen Kurzem ganze Säcke voller Geld auf dem Weg nach Durham in Nordengland sein, um seit Langem notwendige Verbesserungen durchführen zu können.
Lord Greenleigh war ein sehr großzügiger Mann.
Und er war ein wahrlich gut aussehender Hüne.
Das Flattern in Olivias Bauch wurde zu einem panischen Flügelschlag. Sie schluckte schwer. Ich werde eine willige und gehorsame Frau sein.
Unglücklicherweise hatte Gehorsam bisher nicht zu Olivias
hervorstechenden Eigenschaften gehört. Dabei war sie keineswegs bewusst rebellisch oder auch nur besonders streitsüchtig. Sie war eher, könnte man sagen, unfreiwillig ungehorsam.
Bis zum
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