Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
auf dem Boden ab, dachte für einen Augenblick: Jetzt! Jetzt gleich werde ich aufwachen aus diesem Alptraum.
Ein Splitter bohrte sich in ihren Handballen. Sie spürte es nicht. Erst als sie aufstand, betrachtete sie erstaunt das Blut auf dem Küchenboden und band sich ein Taschentuch um die Hand.
Auf dem verblassten Rot des Perserteppichs lagen die gesammelten Zeitungsartikel, Notenblätter und das Fotoalbum. Die Kartonbogen mit den aufgeklebten Bildern waren herausgerissen. Sie hob sie auf, trug sie hinüber zum Esstisch, und es war, als versuche sie die Reste einer zerschlagenen Zeit einzusammeln.
Nach vier Stunden war die Wohnung einigermaßen wiederhergestellt.
Im Schlafzimmer tauschte sie das Samtkleid gegen einen weiten, wadenlangen blauen Rock und einen grauen Pulli. Während des Aufräumens hatte sie immer wieder über das kurze Telefongespräch mit Meschenow nachgedacht. Er hatte nicht nur von einem Missverständnis gesprochen. Er hatte auch gesagt: »Niemand weiß von einer Verhaftung.« Aber das stimmte nicht. Sie wusste doch, dass das nicht stimmte.
Auf dem Weg zum Konservatorium bemerkte sie kaum, dass der Tag schon sommerliche Temperaturen hatte und der Pullover viel zu warm war. Erst auf dem Vorplatz, der durch das Hauptgebäude mit seinen Seitenflügeln geschützt war, spürte sie die Kraft der Sonne. Sie benutzte nicht den Haupteingang, über dem sich der großzügige, halbrunde Erker wölbte, der bis zum Dach hinaufstieg. Sie ging um das Gebäude herum auf die Rückseite, zum Künstlereingang. Sie wollte zu Wassili Jarosch.
In der Pförtnerloge saß ein junger Mann, den sie ab und an gesehen hatte, aber nicht mit Namen kannte. Er stand sofort auf, öffnete das Schiebefenster und grüßte sie ehrerbietig mit Namen.
»Ich möchte Wassili Jarosch sprechen«, sagte sie freundlich.
Der junge Mann senkte verlegen den Blick, schien nicht recht zu wissen, was er darauf antworten sollte.
»Wo ist er?«, fragte sie mit plötzlichem Unbehagen.
»Wassili Jarosch ist krank«, antwortete er, und Röte stieg ihm ins Gesicht.
Galina schluckte.
»Wo wohnt er?«, fragte sie schärfer als beabsichtigt.
Der junge Mann ging einen Schritt zurück. Mit noch immer hochrotem Kopf sagte er steif: »Sie müssen sich bitte an den Verwaltungsdirektor wenden.«
Sie spürte, wie sich ihr Nacken verkrampfte. Wassili war der Einzige, der die Verhaftung tatsächlich gesehen hatte. Sie musste ihn sprechen.
»Bitte«, sagte sie jetzt durch das kleine Fenster. »Bitte helfen Sie mir.«
Der junge Mann beugte sich vor. Sie verstand ihn kaum, als er eindringlich flüsterte: »Bitte, Galina Petrowna, gehen Sie. Bitte gehen Sie sofort.«
Galina taumelte zurück, lehnte sich an die Wand.
»Meschenow«, sagte sie leise. »Ist Professor Meschenow zu sprechen?«, und sie fürchtete die Antwort.
Der Pförtner sah sie an, machte eine leichte Kopfbewegung in Richtung Ausgang. Ihr Herz hämmerte wild. »Nein, ich bleibe«, flüsterte sie. Er straffte seinen Oberkörper, schloss das kleine Fenster und griff zum Telefon. Sie starrten einander an. Noch hatte er nicht gewählt. Stumm formte er noch einmal mit seinen Lippen: »Bitte.«
Sie fühlte den Türgriff in der Hand, sah das Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen, auf dem sie um das Gebäude herumging, über den Platz, zurück auf die Uliza Gerzena. Dieser blendend helle Tag. Eine Gruppe ausgelassener junger Leute kam ihr entgegen. Sie lachten und scherzten. Ein Mann mit Handkarren starrte sie mit wodkaglasigen Augen an. Eine Katze döste auf einem Mauervorsprung neben einem kunstvoll geschmiedeten Gitter. Alles gehörte zu diesem Tag. Ein ganz normaler Tag. Der Himmel über Moskau wölbte sich hoch und blau.
Sie ging ohne Ziel, und es dämmerte bereits, als sie den Block erreichte, in dem Editas Wohnung lag.
Sie wollte mit den Kindern nach Hause gehen und Edita bitten, sie zu begleiten. Von zu Hause aus konnte sie versuchen, Meschenow telefonisch zu erreichen, und am nächsten Morgen würde sie ins Theater gehen. Der Kollege Leonid war vor zwei Jahren verhaftet worden und nach einer Woche freigekommen. Er sprach nie darüber, aber sicher wusste er, was zu tun war.
Sie hörte eine Autotür, nahm erst jetzt den schwarzen Wagen auf der anderen Straßenseite wahr.
Ein Mann kam auf sie zu. »Galina Petrowna Grenko, bitte begleiten Sie uns.«
Hatte sie gefragt: »Warum?« Hatte sie gefragt: »Wer sind Sie?« Später wusste sie es nicht mehr, erinnerte sich nur daran, dass sie
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